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Leseprobe von Regeln? Welche Regeln? – Der Beginn der Geschichte als offizielle Leseprobe

von Thomas Poppner

Schaut mal rein!

Hier könnt ihr euch die offizielle Leseprobe herunterladen. Oder ihr lest sie einfach hier.

ENTSCHEIDUNGEN

Samstag, 17. Mai

»Also. Das Auge ist nicht nur eine Organisation. Das Auge ist auch ein Typ?«

»Jupp! Er wacht über die Organisation wie ein allsehendes Auge. Daher der Name.«

Ungläubig zwirbelte Nico sein Bärtchen. »Und niemand weiß, wie er aussieht?«

Chris hob den Mundwinkel. »Man scherzt, dass selbst seine eigene Frau es nicht weiß.«

»Und die würden mich wirklich aufnehmen? Obwohl ich nur …«

»Hey, Nico!« Chris machte eine beschwichtigende Geste. »Meinst du, ich hab Bock drauf, mich zu blamieren? Du bist ein Organisationstalent. Und der Boss war sehr angetan von deinem Rheuma-Business. Ich hab ihn selten so lachen gehört.«

»Du hast ihm von den Decken erzählt? Aber das ist … alles völlig legal.«

»Na klar, Nico. Du bestellst dir Billigdecken im Internet, verpackst sie in ein Seidentuch und verkaufst sie Rentnern für ’nen lila Schein an der Haustür.«

»Ja, und? Ich unterhalte mich ja auch mit denen.«

»Du bist ein Menschenfreund.«

»Das bin ich! Ist doch eh alles psychosomatisch, was die alten Leute haben. Wenn du denen für fünfhundert Euronen ’n schönes Gefühl vermittelst, geht es ihnen besser.«

»Bestimmt, Nico.«

Nico hob erklärend die Hände. »Ärzte wenden das schon lange an. Und Krankenkassen bezahlen es auch. Nennt sich Placebos.«

Chris nickte. »Siehst du. Genau wegen dieser Redegewalt will er dich kennenlernen.«

»Und du würdest für mich bürgen?«

»Das würde ich. Aber in der Organisation gibt es keine halben Sachen. Kleine Fehler vergibt das Auge. Wenn du allerdings Scheiße baust oder dich nicht an Vereinbarungen hältst, endet es für uns beide im Kellergeschoss.«

»Für uns beide?«

»Für uns beide! Ich bin dein Kontakt zur Organisation und bekomme zehn Prozent von allem, was du verdienst. Dafür unterstützen wir dich, wenn etwas dumm läuft: stellen Anwälte oder kümmern uns um Meinungsverstärker.«

»Zehn Prozent?«

»Zehn Prozent! Ob legal oder illegal. Aber mit dem Hinweis, dass du nicht mich, sondern die Organisation hintergehst, wenn du …«

»Ich habe schon verstanden!«

»Diesen Punkt solltest du auch verstanden haben!«

»Okay. Was muss ich tun?«

Chris zog einen Brief aus der Jackentasche. »Sobald ich dir diesen Umschlag übergebe, startet dein Aufnahmeprozess.«

Nico riss ihm den Umschlag aus der Hand und wollte ihn öffnen. Aber Chris ergriff sein Handgelenk und hinderte ihn daran. »Was immer darin steht, bis morgen früh hast du es auswendig gelernt. Du wirst ab sieben Uhr frisch geföhnt marschbereit sein und den ganzen Tag zu Hause bleiben. Ich hole dich irgendwann ohne vorherige Absprache ab. Wenn du mit irgendjemandem sprichst …« Er hielt inne.

Nico nickte.

Einige hundert Meter entfernt

Lisa hatte den Knopf mit der Nummer fünf kaum berührt. Erschrocken zog sie ihre Hand zurück, als die Fahrstuhltür mit der Wucht einer Guillotine zuschnappte. Mit aufgerissenen Augen blickte sie zu Max.

Auch der war zusammengezuckt, aber seine Gesichtszüge entspannten sich schnell wieder. »Keine Angst, Süße. Dr. Frankenstein entnimmt zuerst unser Gehirn. Dann tuts nicht mehr weh.«

Lisa nickte. »Ja, ja. Achtzehn Jahre sind alt genug. Danach kriegst du eh nur Cellulite.« Sie verzog den Mund. »Blödmann!«

Unter dumpfem Grollen setzte sich der Fahrstuhl in Bewegung.

»Krass«, raunte Lisa und fuhr sich durch die langen, blonden Haare.

Max hob eine Augenbraue. »Wir haben Glück. Ich glaube, wir fahren nach oben.«

»Frankenstein muss also warten?«

»Wenn er sein Labor noch im Keller hat, jedenfalls schon.«

Lisa verschränkte die Arme. »Ich glaube, oben ist nur seine Schniedelsammlung.«

»Na, dann kannst du dich ja entspannen.«

Sie deutete in Max’ Schritt. »Was meinst du: Stopft er ihn aus oder legt er ihn in Alkohol ein?« Sie klopfte ihm auf die Schulter. »Genießen wir die Fahrt.«

Es ruckelte. Betreten blickten sich beide an, als laute Schabegeräusche von links nach rechts wechselten. Lisa atmete ein. Es rumpelte erneut. Sie sah zu Max auf.

»Fünfter Stock, Technikabteilung«, rief jemand von draußen. Noch ein lautes Poltern, dann endlich schob sich die schauerliche Schiebetür zur Seite. Ein freundliches Lächeln erhellte den tristen Flur. »Hallo, ihr beiden. Ich bin Kay. Habt ihr es gleich gefunden?«

Max nickte. »Ganz schön gruselig, euer Fahrstuhl.«

Kay stieß einen Lacher durch die Nase. »Ja, wir alle machen uns einen Spaß daraus. Haben schon überlegt, ’ne Webcam zu installieren und die besten Szenen auf Youtube zu veröffentlichen.«

Lisa fuhr sich unsicher durchs Haar.

Kay zwinkerte ihr zu. »Ihr habt überlebt. – Sicher wollt ihr euch das iPad erst mal ansehen.«

»Warum verkaufst du’s?«, fragte Lisa. 

Kay zuckte mit den Schultern. »Habs geschenkt bekommen. Ist nicht mein Lifestyle. Kommt rein!«

Mit einer ausladenden Handbewegung ließ Max seiner Lisa den Vortritt. Aufmerksam blickte er sich um. »Coole Wohnung, aber echt ’ne zwielichtige Gegend.«

»Ach«, Kay winkte ab. »Man gewöhnt sich an allem, sogar am …«

Rumms. Gerade wollte sie die Tür schließen, als von außen jemand dagegen trat. Das Türblatt schlug gegen Kays Stirn. Bewusstlos ging sie zu Boden.

Max fuhr herum. Drei dunkel gekleidete, vermummte Männer stürzten in die Wohnung. Zwei begannen sofort damit, Schränke zu durchsuchen und Schubladen herauszureißen. Der Dritte packte den schlaksigen Max am Kragen und warf ihn in eine Ecke, als sei er ein leerer Umzugskarton.

Lisa stieß einen Schrei aus.

»Schnauze!«, rief einer der beiden anderen Vermummten. Als sie nicht sofort reagierte, schlug er ihr mit dem Handrücken ins Gesicht. »Schnauze, hab ich gesagt!«

»Hey! Lassen Sie …«, protestierte Max, bevor sein Satz von einem schmerzverzerrten Jaulen erstickt wurde.

Der dritte Gangster hatte seinen Stiefel auf Max’ Kniescheibe platziert. »Deine Freundin ist dein kleinstes Problem, du Horst!«

Scherben klirrten. Jemand riss in der Küche das Geschirr aus den Schränken.

»Au!« Max verzog das Gesicht.

Erneut belastete der dritte Verbrecher Max’ Kniescheibe. »Also! Wo?«

»Was, was …«

»Du glaubst, du kannst uns verscheißern?« Noch einmal trat der Gangster auf Max’ Kniescheibe.

Max schrie auf.

»Hey! Lassen Sie …« Lisa verstummte, als eine Tasse über ihrem Kopf einschlug.

»Schnauze, hab ich gesagt!«

Unterdessen wurde Max weiter verhört. »Hältst du dich für klug? … Du hältst dich für klug, richtig? Du hältst dich für so klug, dass du dich in unser Business einmischen willst?«

»Ich? Ich … ich bin … aaah!«

Wieder trat der Eindringling auf Max’ Knie. »Ich erklär dir, wie es weitergeht: Ich werde dir Fragen stellen. Wenn die Antwort nicht so ausfällt, wie ich mir das vorstelle, zertrete ich zuerst deine linke Kniescheibe, dann deine rechte. Und ab der dritten Frage beginnt mein Kumpel Muster in deine Freundin zu schnitzen, bis sie aussiehst, wie ein Totempfahl. Das machen wir so lange, bis du antworten wirst. Hast du das verstanden?«

»Ich, ich …« Max hob erklärend die Hände. »Bitte, ich …«

»Hey!«, rief jemand von hinten und übergab Max’ Peiniger eine Karte. Der nahm den Fuß von dessen Knie.

»Ich … ich weiß nicht, wovon Sie sprechen«, beteuerte Max. »Das ist ein Missver…«

»Schnauze!« Der Vermummte trat ihm gegen das Schienbein und murmelte. »Kay? Du bist nicht Kay?«

»Auf dem Ausweis steht, es ist ’ne Tussi«, raunte jemand von hinten, schleppte die bewusstlose Kay heran und warf sie in die Mitte des Raumes.

Ein anderer brachte eine Flasche Mineralwasser aus der Küche und schlug sie gegen die Tischkante, sodass der Flaschenhals abplatzte. Der Inhalt der Flasche ergoss sich über Kays Gesicht.

Sie blinzelte. Sofort wurde sie am Kragen gepackt und erhielt Ohrfeigen. Der Typ, der auch Max verhört hatte, hob sie hoch, sodass ihre Füße über dem Boden baumelten.

»Wo?«, fragte er.

»W… was«, antwortete Kay. »Ich weiß nicht, wo …«

Unbeirrt schleifte sie der Typ zum offenstehenden Fenster. »Fünfter Stock«, raunte er und hob sie auf die Fensterbank. »In wie viel Teilen möchtest du da unten ankommen?«

»Halt, ich … ich …« Kay zappelte, aber sie hatte gegen ihren kräftig gebauten Gegner keine Chance. Der hob sie über den Fenstersims, sodass ihr Oberkörper aus dem Fenster hing. »Halt!«, schrie sie. »Ich … ich …«

»Wo?«

»Ich … ich.« Kay seufzte. »Ich hab es nicht mehr«, antwortete sie weinerlich.

Ihr Peiniger fixierte sie mit dem linken Arm, zog mit dem rechten sein Handy aus der Tasche, tippte mit dem Daumen darauf herum und legte es auf den Fenstersims.

Nun wurde es still. Niemand sagte etwas. Max und Lisa tauschten Blicke mit den Eindringlingen aus. Kays Oberkörper hing immer noch aus dem Fenster.

»Es … es tut mir leid«, hörte man sie weinen.

Niemand antwortete ihr.

Dann klingelte das Handy des Gangsters. Er hob es ans Ohr, tuschelte unverständliche Worte und achtete dabei darauf, dass Kay nicht wieder zurück ins Zimmer klettern konnte. Dann klickte er auf das Display und hielt das Handy aus dem Fenster.

»Du hast dich in unsere Geschäfte eingemischt«, krächzte eine Stimme aus dem Handy. »Das war nicht klug.«

»Es … es tut mir leid. Es … es kommt nicht wieder vor.«

»Nein«, sprach die Stimme. »Es wird nicht wieder vorkommen. Weißt du, Menschen sind so verletzlich. Sie haben keinen Panzer, keine Krallen, keine Giftzähne. Und dazu sind sie sehr langsam. Wodurch glaubst du, haben die Menschen es geschafft, diesen Planeten zu beherrschen?«

»Ich … ich weiß es nicht. Ich … es tut mir leid.«

»Ja, du weißt es nicht. Ich sage es dir: Durch Intelligenz. Wenn in der afrikanischen Savanne Löwen auf die ersten Menschen Jagd machten, konnten die ihnen nur durch Intelligenz entgehen. Die Intelligenten haben überlebt.«

»Es tut mir wirklich leid«, weinte Kay.

»Wir haben auf dem Planeten ein Problem mit Überbevölkerung. Sieben Milliarden sind wir schon. Wo soll das hinführen, was meinst du?«

»Ich werde mich«, weinte Kay. »Ich werde mich nie mehr in Ihre An…«

»Nein, das wirst du nicht«, krächzte die Stimme. »Du warst leider nicht klug genug, um weiter auf diesem Planeten Platz zu finden. Machs gut.«

Nach diesen Worten legte Kays Peiniger sein Handy auf den Fenstersims, ergriff sie am Gürtel und schob sie aus dem Fenster.

Ein Schrei ertönte, dessen Lautstärke schnell abnahm.

»Nein!« Lisa hob ihre Hände vors Gesicht. 

»Schnauze!«, fuhr sie Kays Peiniger an.

Die drei Männer kamen näher und postierten sich zwischen Lisa und Max.

»Bitte!«, murmelte Max. »Wir haben damit nichts zu …«

»Bitte tun Sie uns nichts«, flehte Lisa. »Wir …«

Der Mann, der zuerst Max verhört und danach Kay aus dem Fenster geworfen hatte, bückte sich und legte sein Handy auf den Couchtisch.

»Ihr beiden!«, sprach eine Stimme aus dem Lautsprecher. »Ihr habt damit nichts zu tun. Ist das richtig?«

»Wir sind hier wegen Ebay-Kleinanzeigen.«, antwortete Lisa. »Wir wollten ein iPad kaufen.«

»Das bedeutet, ihr kennt diese Kay nicht?«

»Nein.«

Einen Moment lang blieb es still. Dann sprach die Stimme: »Ihr seid intelligent. – Ihr hättet euch nicht von Löwen fressen lassen. Ihr hättet einen Unterschlupf gebaut. Und schon gar nicht wärt ihr so dumm gewesen, einem Löwenrudel seine Beute streitig zu machen. Denn wer das tut, wird selbst zur Beute.«

Lisa und Max tauschten einen verstohlenen Blick aus.

»Ich möchte mich für die Unannehmlichkeiten entschuldigen«, sprach die Stimme. »Wir stehen mit niemandem in Konflikt, der nicht in unserem Revier jagt. Ihr dürft nun eure Intelligenz unter Beweis stellen. Möchtet ihr das?«

Unsicher nickten Max und Lisa.

»Er kann euch nicht hören!«, sprach einer der Eindringlinge.

»Ja«, stimmten Max und Lisa ein.

»Ja, bitte«, ergänzte Lisa.

»Schön«, sprach die Stimme.

Einer der Eindringlinge platzierte zwei Gläser und auf dem Tisch, ein weiterer brachte eine Flache Sekt aus der Küche. Er öffnete sie so, dass sich ein großer Schwall in den Raum ergoss. Grob schenkte er den beiden ein, sodass das meiste daneben lief.

Die Stimme fuhr fort. »Ihr dürft nun auf eure Intelligenz anstoßen, während diese Herren die Räumlichkeiten verlassen werden. Nach eurem Umtrunk ruft ihr die Polizei und berichtet brav, was geschehen ist. Immerhin wurdet ihr gerade Zeugen eines Kapitalverbrechens. Dieses Telefon dürft ihr zum Ausgleich der Unannehmlichkeiten behalten. Was meint ihr? Sollen wir so vorgehen?«

Einen Moment blieb es still.

»Sollen wir so vorgehen?«, drängte die Stimme.

Lisa nickte. »Ja … ja bitte.«

»Gut!«

Schockiert verfolgten Max und Lisa, wie die drei Eindringling gesittet den Raum verließen und sachte die Tür ins Schloss zogen.

»Dann Prost!«, krächzte es aus dem Telefon. Ein leises Knacken. Das Gespräch war beendet. Auf dem Display erschien ein Auge.

Sonntagmorgen, 18. Mai

In seinem Apartment in der Neustadt saß jemand rastlos beim Frühstück. Dieser jemand war Chris. Er hatte Nico den Umschlag übergeben und nun stiegen seltsame Gefühle in ihm auf.

Der Fernseher war eingeschaltet, er stocherte mit der Gabel in Eiern mit Speck und trank dazu ein Bier. Vor ihm lag ein Zettel. Er erinnerte sich noch gut, wie er damals zur Organisation kam, dachte an die Gespräche mit dem Auge. Wie könnte er die jemals vergessen?

Gibt es ihn wirklich, diesen Typen, den sie »das Auge« nennen? Oder ist er ein Fake? So intensiv, wie damals mein Aufnahmeprozess gewesen war, kann der Boss doch unmöglich mit jedem Interessenten verfahren.

Ein Schmunzeln huschte über Chris’ Gesicht. Er warf die Gabel auf den Teller und nahm kauend den Zettel in die Hand. Schon lange konnte er nicht mehr auswendig, was darauf stand. Und doch strahlte dieser Zettel bis heute eine große Faszination auf ihn aus. Wie würde es wohl Nico gehen, der jetzt davorsaß und versuchte, das Ding auswendig zu lernen? Chris schüttelte den Kopf und lachte. Armer Trottel.

Chris schmunzelte und fuhr sich mit den Finger über den Mund. Dann senkte er seinen Blick auf den Zettel und dachte: Komm, ich schau mal, was ich noch auswendig kann. Ein Biss auf die Unterlippe. »Also. Wie war das? – Erstens: Du kannst uns nur …«

Die zehn Gebote der Mafia
  1. Du kannst uns nur über einen Bürgen vorgestellt werden.
  2. Du sollst dich nicht an den Ehefrauen unserer Geschäftspartner vergreifen.
  3. Du sollst keine Geschäfte mit den Bullen machen.
  4. Du sollst keine Kneipen, Bars oder Klubs besuchen.
  5. Du sollst dich jederzeit bereithalten. Selbst kurz vor der Entbindung deiner Frau.
  6. Du sollst Abreden einhalten – immer!
  7. Du sollst deine Ehefrau mit Respekt behandeln.
  8. Du sollst auf Fragen wahrheitsgemäß antworten, wenn du etwas weißt.
  9. Du sollst von anderen Clans kein Geld ergaunern.
  10. Du kannst kein Mitglied von uns werden, wenn du Angehörige bei den Bullen hast, wenn es Untreue in deiner Familie gibt, oder wenn du dich nicht moralisch verhältst.

»Viertens«, rezitierte Nico. »Du sollst keine Kneipen, Bars oder Klubs besuchen.«

Und was war jetzt fünftens? – »Oh, Mann!«

Frustriert zerknüllte er den Zettel und warf ihn in eine Ecke. Nach dem Abschießen eines Feuerwerks ausgefeilter Vulgär-Linguistik, fing er sich wieder, tat einige tiefe Schnaufer, schüttelte mit dem Kopf, hob den Zettel wieder auf, entknüllte ihn und murmelte leise: »Scheiße!«

AUDIENZ

»Und hier wohnt das Auge?«, fragte Nico, als er mit Chris die Stufen eines angeranzten Treppenhauses erklomm.

»Nein. Hier empfängt er dich nur.«

»Hoffentlich mache ich keinen Fehler.«

»Entspann dich, Nico! Wir haben über alles gesprochen.«

Fünfter Stock. Eine Tür stand offen. Chris steuerte darauf zu. Niemand zu sehen. Ein langer Flur verzweigte in sechs Räume. Bis auf die Tür hinten rechts waren alle verschlossen. Nico zitterten die Knie. Mit besorgtem Blick folgte er Chris. Sie wollten gerade die geöffnete Tür durchschreiten, als zwei Gorillas dahinter hervortraten.

Einer bedeutete Chris durch Heben der flachen Hand, dass er draußen warten soll. Der andere zog Nico hinein, drückte ihn mit der Stirn gegen die Wand und tastete ihn unsanft ab. Kein Wort fiel. Am Kragen zog man ihn zurück und drehte ihn um. Eine imperative Geste befahl, er solle seine Lederjacke ablegen. Nico folgte wie in Trance. Der Gorilla verschwand und schloss die Tür von außen.

Hey, halt, mein Handy, mein Geld … Nico biss sich auf die Lippe. Wenn das Auge will, dass ich hier ohne Jacke, ohne Handy und ohne Geld stehe, dann stehe ich hier ohne Jacke, Handy und Geld.

Plötzlich war alles ruhig. Nico sah sich um. Er war in einem großen Raum einer Altbauwohnung. Wie viele Quadratmeter mochten das sein? Vielleicht fünfzig? Hohe Stuckdecken, angeranztes Stabparkett, vergilbte Tapete, ungeputzte Fenster. Am anderen Ende des Raums stand mittig ein Himmelbett mit roten, zugezogenen Vorhängen. Nico befand sich noch genau dort, wo ihn der Gorilla abgestellt hatte. Er reckte seinen Kopf und traute sich nicht wirklich, einen Schritt zu machen.

Ein leerer Raum mit Himmelbett. Ist das ein Wartezimmer?

Alles ist ruhig. Auch von draußen vor der Tür hört man nichts. Abgesehen von der Größe des Raumes ist hier nichts beeindruckend oder repräsentativ. Was soll das hier? Nico ging auf ein Fenster zu. Stadtwohnung, fünfter Stock. Dort unten ist der Ring, die große Hauptstraße der Stadt.

Er atmete tief ein. Plötzlich fuhr unten mit quietschenden Reifen ein Lieferwagen vor.


Lisa wollte Max etwas Gutes tun und Brötchen für das gemeinsame Frühstück besorgen. Tief atmend trottete sie zurück in ihr Zimmer, wo Max noch vor sich hindöste. Wortlos setzte sie sich auf die Bettkante.

»Was los, Süße?«, fragte Max.

»Ich hab gerade einen Überfall erlebt.«

»Bitte?!«

»Ich stand noch auf der Straßenseite gegenüber der Bäckerei, da hielt dort ein dunkler Van, zwei Männer mit Baseballschlägern stiegen aus und zertrümmerten die komplette Einrichtung.«

»Ich … ich hab das Kennzeichen.«

»Ich bin …«

Lisa begann zu weinen.


Nico hatte das Treiben vom Fenster aus beobachtet. Beängstigend, wie schnell die beiden Jungs den Laden zerlegt hatten und wie ruhig sie dabei blieben. Alles lief wie in einem Uhrwerk ab. Wurde er zufällig Zeuge oder war dies eine inszenierte Demonstration? Bei der Professionalität dieser Schläger stellte sich die Frage eigentlich nicht.

Immer noch war Nico alleine in diesem großen Raum. Er schaute sich kritisch um und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. 

Man hat mir gerade ein paar Spielregeln beigebracht, ohne ein Wort zu sagen. Aber, wie gehts nun weiter? Was soll das hier?

»Hallo?«, rief Nico.

Keine Antwort. 

Er strich sich durchs Haar. Neulich sah ich einen Film mit einer ganz ähnlichen Situation. Dort war es eine Art Intelligenztest. Erwartet man von mir, dass ich warte? Oder möchte man meine Geduld testen? Nico zwirbelte sein Bärtchen. Intelligenz – schön und gut. Aber im Angesicht von zwei Gorillas vor der Tür lohnt es sich vielleicht, noch etwas zu warten.

Was ist das für ein bescheuertes Himmelbett in diesem Raum?

Nico umkreiste es vorsichtig.

Die Vorhänge sind zugezogen. Versteckt sich darin jemand und lacht sich gerade tot. Oder hält einer ’ne Maschinenpistole im Anschlag und ballert los, wenn ich den Vorhang aufmache?

»Hallo?«, fragte Nico. »Haaallooo?«

Er zog – ratsch – den Vorhang beiseite. Oh nein, sei nicht das, wonach es aussieht …


»Nein, Lisa! Wir gehen damit nicht zur Polizei.« Max hielt Lisa im Arm und streichelte ihr sanft übers Haar. Bestimmt zehn Minuten saßen sie nun schon so da. Langsam fuhr Lisa wieder herunter.

»Aber wir müssen doch etwas tun«, sagte sie.

»Du warst doch gestern dabei. Irgendetwas stimmt nicht.«

»Was meinst du damit?«

»Diese Kay wurde umgebracht. Wir haben beide gesehen, wie planlos die bei unserer Vernehmung waren. Die ganze Zeitung ist voll von Vorkommnissen und du hast gerade erlebt, wie euer Bäcker zerlegt wurde. Vielleicht haben sie ihm sogar etwas angetan. Die Polizei hat offensichtlich die Kontrolle verloren.«

»Und was tun wir nun?«

»Nachdenken, Lisa. Lange und intensiv nachdenken.«


Nico verharrte noch immer vor diesem Himmelbett. Die Umrisse eines leblosen Körpers zeichneten sich unter der Decke ab. Kein Atemgeräusch, kein Heben und Senken des Brustkorbs.

Was immer da drunterliegt, ist mausetot.

Es half nichts. Nico griff die Decke und legte mit einem Ruck das Gesicht des Opfers frei. Eine Schaufensterpuppe kam zum Vorschein. In die leicht geöffnete Hand hatte jemand einen Zettel geklemmt. Er nahm ihn, rollte ihn auf und las: »Geh in den Raum gegenüber, Kleiner!«

Nico spürte sein Herz pochen. Unsicher trat er auf den Flur. Die Tür gegenüber war geschlossen – niemand zu hören. Vorsichtig drückte er die Klinke herunter. Er betrat einen ähnlich leeren Raum. Eine Ecke war mit einem Vorhang abgeteilt.

»Schließ die Tür, Kleiner«, sprach ihn jemand von hinter dem Vorhang aus an.

Nico zog die Tür hinter sich ins Schloss und wandte sich wieder um. »Sind Sie das Auge?«

»Ich bin, der ich bin. Du darfst mich Gott nennen.«

»Okay, … Gott. Was möchten Sie, das ich tun soll?«

»Lass uns über die Regeln sprechen, Kleiner.«

Endlich, dachte Nico. Gerade setzte er an, die auswendig gelernten zehn Punkte herunterzuleiern, da fragte die Stimme: »Was hältst du von Regel Nummer sieben?«

»Regel Nummer sieben? – Moment.« Unsicher fuhr er sich durchs Haar. Seine Augen schielten beschäftigt zur Decke und sein Gesichtsausdruck stand auf voller Konzentration. Sekunden vergingen. Dann schüttelte er den Kopf und griff sich an die Stirn.

Neuer Versuch: Augen an die Decke, Gesicht auf busy. Seine Lippen formten unhörbare Laute, während er gleichzeitig leicht mit dem Kopf nickte. Aber dann – wieder Kopfschütteln.

»Sieben ist eine große Zahl. Nimm die Finger dazu, Kleiner!«

Also nochmal. Gesicht auf busy, Augen an die Decke, leichtes Kopfnicken, Laute formen und gleichzeitig etwas mit den Fingern abzählen. Zwanzig Sekunden später schien Nico angekommen zu sein. Er senkte den Blick, dann begann er von Neuem. Wieder ein kritisches Kopfschütteln. Und erneut zählte er durch, bis er unterbrochen wurde.

»Wo genau habt ihr in der Schule mit dem Rechnen aufgehört, Kleiner?«

Nico ignorierte den Zwischenruf. »Ist es die Sache mit der … Ehefrau?«

»Ja, Kleiner. Wie lautet sie?«

»Du sollst deine Ehefrau mit Respekt behandeln.« Nicos Stirn runzelte sich. »Ich bin aber nicht verheiratet.«

»Ich habe auch nicht gefragt, ob du verheiratet bist, sondern was du von Regel Nummer sieben hältst.«

Nico spielte mit den Fingern an seiner Unterlippe herum. Was mache ich nun? Bis jetzt habe ich noch kein so umwerfendes Bild abgegeben. Aber wer tut das schon. Hm. »Um offen zu sein, ich habe mir darüber noch keine Gedanken gemacht.«

»Ich weiß, Kleiner. Nehmen wir an, du wärst verheiratet. Was würdest du davon halten?«

»Na ja.« Nico simulierte ein kurzes Nachdenken. »Sie macht schon Sinn.«

»Warum?«

Oh Scheiße! Nun hat er mich schon wieder am Sack.

»Okay, ich gebe auf«, entgegnete Nico ebenso frustriert wie erleichtert. »Ich habe keine Ahnung. Auf diese Frage war ich nicht vorbereitet.«

»In unserem Job, Kleiner, wirst du immer mit Dingen konfrontiert werden, auf die du nicht vorbereitet bist.«

Im selben Moment hörte Nico ein Fingerschnipsen. Hinter ihm öffnete sich die Tür.

»Wir kommen wieder auf dich zu!« 

Nico verabschiedete sich fragend, doch niemand antwortete ihm mehr. Zögernd verließ er den Raum. Wartet irgendwo noch jemand mit einem Messer oder einem Strangulierungsdraht? Nein. Nur die Eingangstür steht offen.

Verstört verließ Nico die Wohnung. Seine Jacke war dem Treffen mit dem Auge zum Opfer gefallen. Prüfend klopfte er seine Hose ab: kein Geld, kein Handy, Scheiße. Nicht mal meinen Haustürschlüssel haben sie mir gelassen.

Frustriert fuhr er schwarz mit dem Bus zu Chris. Der wartete bereits auf ihn. Sein seriöses Grinsen verriet, dass in ihm selbst noch lebhafte Erinnerungen an sein Einführungsritual aktiv waren.

Chris warf Nico etwas zu. »Hier, deine Jacke. Lass vielleicht das nächste Mal dein Handy zu Hause. Da stehen die nicht so drauf. Du weißt schon, Ortungsdienste, Mithörmöglichkeiten, Kamera und so weiter.«

Nico wollte etwas sagen, aber Chris hob die Hand. »Pass auf, Nico. Ich weiß, dass du viele Fragen hast. Aber was heute geschehen ist, geht nur dich und das Auge etwas an. Ich kann dir weder sagen, ob es weitergeht, noch wie es weitergeht oder wann es weitergeht. Wir werden uns jetzt eine Weile nicht sehen. Nämlich so lange, bis über dich entschieden wurde. Darum muss ich dich jetzt auch rauswerfen. Geh ’ne Pizza essen. Die hast du dir verdient.«

Schon stand Nico vor Chris’ geschlossener Wohnungstür. Verstört prüfte er seine Jacke. Handy ist noch da. Geld ist noch da. Und der Wohnungsschlüssel? Auch noch da. Das mit der Pizza ist ein super Vorschlag. Das werde ich machen …


»Hängst du immer noch vor dem Laptop?«

»Ich recherchiere gerade, Lisa. Lass mich noch einen Moment arbeiten.«

»Was recherchierst du denn?«

»Wegen dieser Kay«, antwortete Max mit abwesendem Blick. »Und dem, was dir passiert ist.«

»Und was hast du herausgefunden?«

»Es gibt eine kriminelle Organisation in der Stadt. Das Auge heißen die.«

»Das Auge?«

»Das Auge!«

»Und?«

»Und ich überlege, was ich tun kann.«

»Du überlegst, was du tun kannst?« Sie umarmte ihn. »Maxi, du bist süß!«

»Süß? Ich bin nicht süß, ich meine das ernst!«

Sie verwendete den Tonfall, mit dem sie auch mit ihrem Kaninchen sprach: »Max, schau dich an. Du bist nicht Khal Drogo. Du bist … ein Hemd.«

»Ja, Lisa. Ich bin ein Hemd. Aber ich bin ein ärgerliches Hemd. Und ich werde etwas tun.«

Einen Moment lang herrschte Schweigen. Dann sagte Max: »Wir brauchen eine Basis.«

»Eine Basis?«

»Eine Basis!«

Die offizielle Leseprobe geht noch weiter

Aber wenn du nun schon bis hierher gelesen hast – vielleicht möchtest du dir alles doch lieber als EPUB oder PDF herunterladen. Im PDF geht es auf Seite 17 weiter. Im E-Book springst du zum Kapitel KONTAKTE.

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