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Outtake aus Mooyan 1: Wasserkrug-Anfang

von Thomas Poppner

Alter Anfang

Ursprünglich begann die Geschichte anders. Tana fand eine Flaschenpost.

In der ursprünglichen Geschichte hätte Tana im Eisland die zwei Schiffsbrüchigen Sanjok und Pjoktor gerettet. Es stellte sich aber im Lauf der Zeit als unrealistisch heraus, dass ein neunzehnjähriger Fischerjunge aufgrund einer Flaschenpost ins tausend Seemeilen entfernte Eisland aufbricht.

Außerdem wäre es aus Sicht der Schatten eine sehr sonderbare Vorgehensweise gewesen, eine Flaschenpost zu senden, um ihren Plan zu verwirklichen.

So musste dann etwas anderes her und dies hier flog heraus.

Ahoi

Nach den Wirren des ersten Zeitalters schilderte die Narsis das Kommende so exakt, dass ihre Worte weit über die Grenzen Odars hinaus Würdigung erfuhren. Als sie dann düstere Visionen befielen, schrieb sie diese im Königsbuch und zwei Werken über den Tod nieder.


In den letzten Tagen, Suchender, wird man dich nicht mehr aus dem Leben scheiden lassen. Darum gehe jetzt. Der Weg ist offen. Noch ist der Weg offen. Gehe, solange Zeit ist.

Wenn dereinst die Tür verschlossen wird, lässt man dich nicht mehr eintreten. Du wirst im Leben gefangen sein.


Dies ist nicht die Geschichte der Narsis. Es ist eine Chronik der Begebenheiten, welche eintraten, lange nachdem sie sich von einer Klippe stürzte.

Die Insel Pilao

Für mich begannen die Schattenkriege mit einem dumpfen Schlag. Denn als ich auf die Schwelle meiner Hütte trat, stieß meine Stirn gegen die eines anderen. Ich fiel auf den Rücken und das gerade geholte Wasser versickerte unter meinem zerbrochenen Krug im Sand.

Eigentlich war dies meine Hütte.

Eigentlich wohnte ich allein.

Eigentlich hatte ich keinen Besuch.

Und eigentlich … ich suchte noch Orientierung, als sich ein Körper über mich beugte. Zwei große Augen starrten mich an.

Nein, diese beiden Augen gehörten keiner Fee. Und nein, ich selbst bin auch keine.

»Alles in Ordnung?«, sprach mich jemand an.

»K… Kamo«, stammelte ich? »Was machst du in …«

»Du warst nicht zu Hause«, antwortete er und hielt mir etwas entgegen.

Ich verzog den Mund. »Nein, ich war …« Ich blinzelte. »Was ist das?«

»Eine Flasche.«

Benommen richtete ich mich auf und musterte das durchsichtige Ding. Ich nickte. »Ja. Das ist eine Flasche. Die feinen Herren von Mooyan lagern in solchen Gefäßen edle Getränke und …«

Kamo schüttelte die Flasche. Erst jetzt erkannte ich, dass ein Zettel darin steckte. Sie war mit einem Korken verschlossen.

»Hab ich am Strand gefunden. Hast du was, womit man das Ding öffnen kann?«, fragte Kamo.

Ich zuckte mit den Schultern. Kurz darauf durchwühlten wir eine Schublade. Der Korken stand ein wenig über den Flaschenrand hinaus und Erfolg brachte uns schließlich eine Zange. Nach vorsichtigen Drehbewegungen gab das hartnäckige Ding seinen Inhalt preis.

Ich hob den Zettel vor mein Gesicht.


Wir sind im Eisigen Reich gestrandet. Dort haben wir uns zu den östlichen Klippen durchgeschlagen. Helft uns!


Kamo riss mir den Zettel aus der Hand, las ihn laut vor und lachte. »Im Eisland sind sie gestrandet.«

Ich runzelte die Stirn.

Umsichtig rollte er den Zettel wieder zusammen, steckte ihn zurück in die Flasche, verschloss sie wieder mit dem Korken und drückte sie mir in die Hand. Dann ließ er mich stehen und stapfte davon.

»Kamo?«, fragte ich. »Kaamooo?« Aber er ging einfach weiter, als ob er mich nicht hören würde.

Ich schüttelte den Kopf. Kamo war ein Sonderling, ein Fährmann, der unweit meiner Hütte eine kleine Wetterstation betrieb. Dass unter seiner harten Fassade etwas Mitfühlendes verborgen ist, bemerkte ich erst, als vor Jahren meine Eltern auf See ums Leben kamen. Seit dieser Zeit war er für mich so etwas wie ein großer Bruder. Sonst ließ er niemanden an sich heran. Dementsprechend aussichtslos wäre es nun gewesen, ihn um Unterstützung zu bitten.

Das Eisige Reich, dachte ich. Das ist im Norden. Das Eisland.

Ein Seemann erzählte einst, dass es im Norden und in großer Höhe so kalt sei, dass Wasser hart wie Stein werden würde. Er zeigte dabei auf den Çakovo – den Berg der gleichnamigen Insel, dessen weiße Spitze in weiter Entfernung aus dem Wasser ragt.

Ich sah in mir nun nicht den geborenen Abenteurer. Bisher hatte ich das Küstenmeer meiner Heimatinsel Pilao nur dann verlassen, wenn ich musste. Zum Beispiel, wenn die hohen Herrschaften in Mooyan wieder einmal ihre Verwaltung reformierten und sich jeder dort vorzustellen hatte. Oder auch damals, als nach der Sache mit meinen Eltern die bürokratischen Mühlen Mooyans keine Ruhe gaben, bevor zahlreiche Formulare mit vielfachen Durchschlägen ausgefüllt, unterschrieben, abgestempelt und besiegelt worden waren. Doch das ist eine andere Geschichte.

Ich zeigte die Flaschenpost meinen Freunden. Aber auch die lachten mich aus, als ich sie fragte, ob mich jemand begleiten würde.

»Ins Eisland willst du? Du weiß doch nicht mal, ob es das gibt.«

»Ich dachte, das Eisland sei eine Legende.«

»… und der Legende nach gibt es dort baumhohe, weiße Raubtiere.«

»… und kalt soll es da sein.«

»… und böse Geister gibt es dort auch.«

»Böse Geister – pah!« Ich war wirklich verärgert, ließ sie stehen und ging nach Hause. Dort reparierte ich in meinem Missmut leise vor mich hinfluchend das Dach. Eine Aufgabe, die ich schon viel zu lange vor mir hergeschoben hatte. Nun konnte ich den Ärger über die Gleichgültigkeit meiner Freunde dorthin umleiten. Das änderte zwar nichts an meiner Rage, aber wenigstens war das Dach danach dicht.

Nachts schlief ich schlecht. Ich fragte mich, wie es denn wäre, auf einer einsamen Insel zu stranden. Verdrossen wälzte ich mich auf meinem Lager. Aber letztlich fand ich dann doch noch etwas Ruhe.

Am Folgetag feierten wir das Dünenfest. Das brachte mich auf andere Gedanken und schnell war die Flaschenpost vergessen. Tief in der Nacht taumelte ich vom Alkohol benebelt nach Hause. Als ich wieder erwachte, plagten mich Kopfschmerzen. Ich hatte einen Kater. Mein Brummschädel befahl mir mit großer Bestimmtheit, es für diesen Tag ruhiger anzugehen. Und damit ich etwas hatte, das man auch von seinem Lager aus tun konnte, spülte er die Erinnerung an die Flaschenpost wieder nach oben.

Da war sie also wieder, diese Flasche. Um sie nicht mehr sehen zu müssen, hatte ich sie in eine Kiste geworfen. Nun lag der darin befindliche Zettel wieder auf meinem Bauch. Und in der Lethargie einer zu ausgearteten Feier malte mir meine Fantasie aus, wie es jemandem ergehen könnte, der hilflos irgendwo gestrandet wäre. Ich fragte mich, wie ich mich fühlen würde, was ich denken würde. Wie verzweifelt man sein müsste, mit einer Flaschenpost nach Hilfe zu ersuchen.

Erst am späten Nachmittag kamen meine Lebensgeister zurück. Ich musste mich bewegen, lief ein wenig am Strand entlang. Es war mir, als würde mich das Meer rufen. Solange es noch hell war, überlegte ich, wie es denn dort sein könnte, im Eisland – wie viele Männer man für eine Rettungsaktion benötigen würde. Und vor allem: Wo man diese Männer herbekommen könnte. Als schließlich die Sonne unterging, saß ich zwischen ein paar Palmen und stierte in die Ferne. Vielleicht saßen die Verfasser dieser Flaschenpost nun in ähnlicher Weise an ihrer Küste und blickten über den Horizont, ob ihnen jemand zur Hilfe käme.

Wie wunderschön und doch tückisch zugleich ist der Ozean, dachte ich. Die Ruhe, die dieser Sonnenuntergang auf mich ausstrahlte, würden diese armen Menschen im Eisland als Hilflosigkeit erleben.

Als es dunkel wurde, legte ich mich hin und blickte in Pilaos leuchtenden Sternenhimmel. Einige dieser Sterne würden sicher auch von den Absendern der Flaschenpost gesehen werden. Könnten sie doch nur sprechen, diese Sterne.

Wieder blickte ich über das Meer. Der Mond spiegelte sich friedlich darin und sein Licht brach sich in mystischem Glitzern. Was ich da in mir spürte, war bestimmt kein Fernweh. Ich war glücklich hier auf Pilao. Aber mein Vater hatte mich zu einem mitfühlenden Menschen erzogen. Und wenn ich die Lebensart meiner Landsleute beschreiben sollte, so wäre das füreinander Einstehen, die gegenseitige Hilfsbereitschaft, einer der Werte, die ich mit meiner Heimat verbinde. Dass sich diese Hilfsbereitschaft jedoch nur nach innen richten sollte, auf Freunde und Bekannte, oder wenigstens auf Bewohner der Insel, das betrübte mich.

Ich stand auf und lief im Dunkel der Nacht an den weißen Stränden entlang. Lange, lange Zeit trottete ich vor mich hin. Teils sah ich auf zu den Sternen, teils blickte ich unter mich oder stierte auf das weite Meer hinaus. Schließlich lehnte ich mich an eine Palme und schlug mit der Faust gegen ihren Stamm. Die Entscheidung war gefallen.

Begleiten würde mich wohl niemand. Da konnte ich argumentieren, so viel ich wollte. Und betteln würde ich sicher nicht. Aber: Jemand war in Not und jemand musste helfen. Also blieb mir nichts anderes übrig: Ich beschloss, mich allein auf den Weg zu machen. Noch in der Nacht packte ich mein Bündel. Ich würde bei Sonnenaufgang aufbrechen und in den Tag hineinsegeln.

Als ich mit dem Packen fertig war, fühlte ich mich zu aufgekratzt, um schlafen zu gehen. So legte ich mich an den Strand und träumte ein wenig vor mich hin. Zunächst noch etwas ängstlich. Doch je länger ich darüber nachsann, desto abenteuerlustiger wurde ich.

Ernüchterung traf mich, als ich am Morgen erneut Kamo aufsuchte. Von ihm erhoffte ich mir den einen oder anderen Fingerzeig. Und als Fährmann vielleicht auch eine ausgediente Seekarte. Kamo hörte sich meine Geschichte an. Dann diskutierte er kurz mit mir. Schließlich kramte er in einer Kiste und holte ein Buch heraus. Mit den Worten – »Ich kann dich eh nicht umstimmen!« – warf er es mir zu.

»Vielleicht kann ich dich umst…«, versuchte ich zu parieren.

Aber Kamo hob ablehnend beide Hände. »Das Eisland? Vergiss es!«

Ein wenig ratlos blickte ich das Buch an. Die bekannte Welt hieß es. Ein Reiseführer. Ich roch daran.

»Ja, es riecht noch neu. Hab es vor einer Woche von einem Passagier geschenkt bekommen. Wenn du schon keine Ahnung hast, wo du hinsegelst, dann lies wenigstens darin, bevor du irgendwo an Land gehst!«

»Ein Reiseführer?«

»Ja. Dieser schräge Vogel hat die komplette freie Welt besegelt und darin seine Erfahrungen zusammengetragen.« Kamo verdrehte die Augen. »Hat pausenlos geredet während der Fahrt.«

Zurückhaltend klappte ich das Buch auf. Die ersten beiden Seiten bildeten eine Seekarte. Sie war nicht besonders groß. Aber immerhin eine Karte. Eine Karte, auf der mein Ziel, das Eisland, nicht eingezeichnet war. Missmutig atmete ich aus.

»Richtig«, sagte Kamo. »Dein Eisland hat er nicht gefunden. Er vermutet, dass es sich um ’ne Eisscholle handelt, die sich bewegt. Steht irgendwo auf den ersten Seiten. Weiter bin ich noch nicht gekommen.«

»Eine Eisscholle, die sich bewegt?«

Kamo lachte. »Du hast echt keine Ahnung, auf was du dich einlässt, Junge!«

»Aber ohne das Eisland …« Ich klappte das Buch zu und hielt es ihm hin.

»Auch wenn das Eisland nicht eingezeichnet ist, so doch zumindest der Weg dorthin. Nimm es!«

Ich bedankte mich und fragte, ob ich ihm etwas dafür geben könne. Aber Kamo lachte nur. »Komm wieder! Und erzähl mir danach, was du erlebt hast.«

»Mach ich«, sagte ich und verabschiedete mich. Erst auf dem Weg nach Hause fand ich am unteren Rand der Seekarte noch einen Hinweis auf mein Ziel: Das Eisige Reich sei eine kalte Einöde und läge irgendwo nördlich hinter Val’Odar.

Ich setzte mich und blätterte in Kamos Reiseführer. Dort erregte ein interessanter Abschnitt meine Aufmerksamkeit.


Nordwestlich über dem Çakovo liegt die Insel Val’Odar. Dort leben zwei Völker. Das von Vale und das von Odar.

Über die Leute von Vale gibt es nicht viel zu berichten. Sie sind friedlich, bescheiden und hilfsbereit. Ihr werdet sie mögen. Gut, die Frauen haben in Vale das Sagen. Aber es zwingt einen ja niemand, sein Leben dort zu verbringen. Wer die Insel besucht, sollte auf der Seite von Vale anlegen. Auch der Gastfreundlichkeit wegen.

Übt, Euch zu entschuldigen, bevor Ihr Euch auf die Reise in den Osten macht. Ihr werdet es brauchen, denn die Leute von Odar sind sehr stolz. Sprecht das Wort pathetisch aus. Drückt den Rücken durch, hebt Nase in Richtung der Sonne und donnert stolz ein »Odar!« in die Weiten der Welt. So und nicht anders spricht man Odar.


Schön. Nach dem Lesen dieses Abschnitts war klar: Ich würde im Westen anlegen und die Insel in Vale betreten. Dort wollte ich einen Moment ausruhen, neuen Proviant an Bord nehmen und mich auf die Suche nach dem Eisland machen.

Da wir nun aber schon über Odar gelesen haben, schwenken wir kurz hinüber in dieses ungewöhnliche Land. Denn etwa um den gleichen Tag herum machten zwei Halbwüchsige dort eine sonderbare Entdeckung …

Aufbruch ins Ungewisse

Und so liefen an diesem Morgen zwei Schiffe aus. Das erste war ein luxuriöser Viermaster, der Odar in Richtung Südosten verließ. Das zweite Schiff fuhr in den Nordosten und gehörte mir. Schön, es war eher ein Boot: meine Jolle. Und was lag am Schnittpunkt unserer beiden Kurse? Das Archipel Mooyan.

Angeblich soll ja in Mooyan das Leben entstanden sein. Jedes Kind lernt: Die ersten Menschen haben sich von dort aus auf den Weg gemacht, um die Welt zu erkunden und zu besiedeln. Da nun die ersten Menschen bereits dort waren, hielt ich es nicht für nötig, dort auch noch anzulanden. Aber ich wollte mich auf meiner Reise so weit wie möglich an bekannten Orten orientieren. Also schipperte ich an Mooyans Inselwelt vorbei.

Die Bewohner mögen mir nicht liegen, aber die drei Inseln des Archipels sind wunderschön. Über schroffen Felsenküsten erheben sich ausgedehnte Wiesen und Auen. Kühe sehen den Schiffen nach. Kinder winken vorbeifahrenden Seeleuten.

Ich segelte östlich an Mooyan vorbei und machte eine Wende nach Nordwesten in Richtung des Çakovo – des höchsten Berges der bekannten Welt. Die folgenden Stunden wuchs er zu immer beeindruckenderer Größe an. Eigentlich hatte ich vor, den Berg südwestlich zu passieren, um dann auf Vale zuzusteuern. Doch je näher ich dem Çakovo kam, desto neugieriger wurde ich, machte eine spontane Halse Richtung Norden und steuerte an die Insel heran.

Plötzlich erschien ein Kriegsschiff und stoppte mich. Ich wurde an Bord genommen und verhört. Was ich in dieser Gegend wolle. Ich antwortete, dass ich mir nicht bewusst sei, etwas Unerlaubtes zu tun. Ich sei Fischer und auf der Fahrt nach Vale.

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