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Outtage aus Mooyan 1: Bibliotheks-Anfang

von Thomas Poppner

Zweiter Anfang

Nach dem der Wasserkrug-Anfang von einigen meiner Testleser bemängelt wurde, suchte ich nach Lösungen.

Zunächst dachte ich noch, Tana sei zu wenig greifbar gewesen und schrieb einen weiteren Beginn der Geschichte. Diesmal suchte ein relativ unerfahrener Tana nach Hinweisen wegen der von ihm gefundenen Flaschenpost.

Auch hier wäre er ins Eisland aufgebrochen. Und so flog auch dieser Anfang nach einer gewissen Zeit wieder heraus.

Ahio

Der Archipel Mooyan

Angeblich ist auf Mooyan das Leben entstanden. Jedes Kind lernt: Die ersten Menschen haben sich von hier aus auf den Weg gemacht, um die Welt zu besiedeln. Und da die ersten Menschen bereits dort waren, hatte ich niemals besonderes Interesse, diesen Ort zu besuchen. Nein. Das hochnäsige Volk von Mooyan sollte dortbleiben, wo es herkam.

Doch nun war ich tatsächlich hier auf der Løtaja – einer der drei Inseln des Archipels. Koram-Bibliotheken las ich von einem wuchtigen Schild ab, welches in schwindelnder Höhe über in den Himmel ragenden Säulen angebracht war.

In meiner Heimat Pilao kannten wir nur Lehm- und Holzhütten. Langsam erschloss sich mir, warum die hiesigen Einwohner so stolz auf ihr fortschrittliches Land waren. 

»Na los, Junge«, drängte Kamo und begab sich zwischen Säulen, die mir vorkamen wie die gierigen Reißzähne eines mächtigen Seeungeheuers.

Ich nickte stumm und folgte ihm, als sei ich sein kleiner Sohn, der von ihm gerade die Welt gezeigt bekam. Schon breitete sich die prunkvolle Eingangshalle über mir aus. 

Der Schlund eines Seeungeheuers kann das nicht sein, dachte ich und hob einen Mundwinkel. Denn diese Halle war größer als jedes Ungetüm, das ich mir vorzustellen in der Lage war.

Kamo war schon weitergeeilt und blickte sich um. »Tana!«

»Ich komme ja«, rief ich und folgte ihm schnellen Schrittes.

Zielstrebig steuerte Kamo eine Treppe an. Die stiegen wir hinauf und hinauf und weiter hinauf – und noch weiter hinauf. Meine wunderbare Heimatinsel Pilao ist nun nicht dafür berühmt, besonders hügelig zu sein. Dass die Treppe eines von Menschen errichteten Bauwerks allerdings weiter nach oben führen sollte als die höchste Erhebung meiner Heimat, befremdete mich. Ich war aber noch viel zu beeindruckt, um das zuzugeben. Und als die Faszination für diesen Ort endlich nachließ, stolperte ich und fiel in Kamos Arme.

Der lachte. »Wenn du ab und zu mal auf deine Füße schaust, Tana – dann siehst du auch, wo die Treppe endet.«

Einige Schritte vor uns saß ein Mann an einem Tisch, dessen breites Grinsen nicht zu übersehen war. »Na, junger Freund? Das erste Mal hier? Kommt! Wie kann ich Euch helfen?«

Wir begrüßten uns und der Mund dieses grauhaarigen Bibliothekars verzog sich erneut zu einem breiten Grinsen, als er auf die Flasche in meinen Händen aufmerksam wurde.

»Habt Ihr eine Flaschenpost gefunden, junger Freund?«, fragte er, während ich einen Zettel aus der Flasche herausschüttelte und seinen spöttischen Tonfall zu überhören versuchte.

Ich reichte ihm den Zettel.

Er nickte – »Aha« – und las.


Wir sind im Eisigen Reich gestrandet. Dort haben wir uns zu den östlichen Klippen durchgeschlagen. Helft uns!


»Nein, nein«, rief ich. »Nicht diese Seite.« Ich fuhr mir über die Stirn.

»Also die andere?« Der alte Mann nickte und drehte den Zettel um.

Aus dem Augenwinkel heraus nahm ich ein Grinsen von Kamo wahr. Ich beschloss, es nicht zu beachten.

»Narsis«, las der alte Mann. »Der vergangene Tod.« Er pustete Luft durch die Lippen.

»Gibt es ein Buch mit diesem Namen?«, fragte Kamo.

Der Alte nickt stumm. Dann rollte er den Zettel zusammen und hielt seine Hand auf. Zuerst dachte ich, er wolle Geld. Aber nein, er bat um die Flasche. Als ich sie ihm gab, tat er den Zettel wieder hinein und verschloss sie mit dem Korken. Dann gab er sie mir zurück.

Einen Moment lang sah der Alte unter sich, fast so, als ob er eingenickt wäre. Dann funkelte er mich an. »Sagt die Wahrheit, junger Freund! Ihr habt das selbst auf die Rückseite geschrieben.«

»Ja, natürlich«, antwortete ich.

»Er sagte mir, dass er ständig Albräume davon hat«, mischte sich Kamo ein.

»Träume?«, fragte der alte Mann. »Von der Narsis?«

Ich atmete ein. »Seit ich diese Flaschenpost fand, träume ich fast jede Nacht von einem Buch mit diesem Titel. Eine Person legt es zur Seite und läuft los. Nah deren Hütte springt sie von Felsen in die Tiefe.«

»Sie springt von einem Felsen?« Die Pupillen des Bibliothekars spießten mich fast auf. »Und Ihr erzählt mir auch keine Geschichten?«

»Nein«, mischte sich Kamo ein. »Er spricht davon seit Tagen. War die Narsis nicht diese … diese …«

Der alte Mann nickte und winkte uns, ihm zu folgen. Hinter seinem Schreibtisch gingen drei Türen ab. Wir nahmen die rechte. Der eigentümliche Geruch, welcher diesem Gebäude zu eigen war, verstärkte sich. Ich riss die Augen auf. 

Wir befanden uns in einem riesigen Lesesaal. Drei Geschosse mit umlaufenden Fluren, verbunden durch Treppen, Leitern, Rampen und Regalen voller Bücher.

Hier muss man das Wissen der gesamten Menschheit zusammengetragen haben, dachte ich.

»Tana!«, tadelte Kamo. 

Ich fuhr herum. Der alte Bibliothekar hatte uns mit einer Geste dazu aufgefordert, auf zwei Sesseln Platz zu nehmen. Erst als wir saßen, begab er sich in den Saal, um dort offenbar nach dem passenden Buch zu suchen. 

Ich prüfte die Polster, welche bei Weitem weicher waren als alles, worauf ich gewöhnlich die Nacht verbrachte. Kamo schien das zu amüsieren. Und so verfolgten wir beide, wie der alte Mann Leitern und Treppen hinabstieg, um schließlich mit einigen Büchern zurückzukehren. Er nahm wieder Platz und in unseren Sesseln saßen wir uns nun wie in einem Dreieck gegenüber. Ein kleiner Tisch stand in der Mitte und der grauhaarige Mann präsentierte stolz, was er mitgebracht hatte.

»Narsis, das Leben. Narsis, der zukünftige Tod. Narsis, der vergangene Tod.«

Ich wollte nach einem Buch greifen, doch der erhobene Zeigefinger des Bibliothekars verwehrte es mir.

»Sehr alte Abschriften. Sehr wertvoll«, sprach er und musterte mich. »Ihr wagt Euch bei Eurem ersten Besuch gleich an eines der größten Mysterien heran, junger Freund.«

Mir war nicht klar, ob dies nun eine Frage oder eine Feststellung war. Ich zuckte mit den Schultern, blickte zu Kamo. 

Gerade wollte ich meine Stimme erheben, da sprach der alte Mann: »Euer Freund, der Fährmann Kamo, kommt regelmäßig hierher. Immer, wenn er zwischen unserer schönen Løtaja und Eurer Heimat hin- und herpendelt.« Er blickte zu Kamo. »Allerdings interessiert sich Euer Freund gewöhnlich für etwas leichtere Literatur.«

»Könnt Ihr ihm helfen?«, fragte Kamo.

Die Alte hob erklärend die Hände, stockte und atmete ratlos aus. »Der vergangene Tod«, murmelte er und suchte nach Worten. Schließlich funkelte er mich an. »Wisst Ihr, wer die Narsis war, junger Freund?«

Ich machte eine verlegene Geste. »Nein. Natürlich nicht.«

»Dann beginnen wir doch einmal damit. Die Narsis war eine Seherin Odars. Ihr kennt Odar?«

Ich wollte gerade antworten, dass ich den Namen schon einmal gehört hatte, da streckte sich mir bereits die Hand des Bibliothekars entgegen. Er sah zu Kamo. »Niemandem, der Wissen begehrt, soll es verwehrt sein, klüger zu werden.«

Er erhob sich und trat an ein nahes Regal. Dort nahm er ein Buch heraus, welches erkennbar neueren Datums war. Mit bedächtigen Schritten kam er zu mir, drückte es mir in die Hand und setzte sich wieder auf seinen Sessel gegenüber. 

»Die bekannte Welt«, las ich. »Ein Reisebericht.«

»Ich habe hier schon einige gesehen«, sprach der Alte. »Ihr seid zum ersten Mal in die weite Welt aufgebrochen.« Er deutete mit dem Zeigefinger auf mich. »Und ich sehe es an Euren Augen: Ihr seid beeindruckt. Was tut Ihr auf Pilao? Baut Ihr Kokosnüsse an? Seid Ihr ein Ziegenhirte?«

»Fischer«, antwortete ich.

»Ein Fischer, der lesen kann?«

Kamo wollte gerade etwas antworten, da sprach der Alte: »Euer Poesie-Fest.« Er schüttelte schmunzelnd den Kopf. »Hier auf Mooyan sieht man euch als Wilde an, die mit Lendenschurz in Strohhütten leben. Dabei kann fast jeder von Euch lesen und schreiben, weil ihr Feste feiert, in denen Ihr Euch Gedichte vorlest. Hier dagegen …« Der Alte verzog den Mund. »Jeder hält sich selbst für klug und viel zu wenige kommen an diesen wunderbaren Ort, um zu lernen – falls sie denn überhaupt des Lesens kundig sind.«

Einen kurzen Moment verstummte der Alte. Schließlich blickte er zu Kamo. »Und Ihr? Seid Ihr sein großer Bruder? Sein Vater?«

Kamo blickte unter sich – schüttelte mit dem Kopf. »Während der großen Wirbelstürme …«

Der alte Mann riss die Augen auf. »Vor zwei Jahren?«

Kamo nickte. 

»Beide Eltern?« Der Alte schloss kurz die Augen und atmete aus. Dann sah er mich mitfühlend an. »Das Leben, junger Freund, reicht uns manchmal einen üblen Trank. Wir können nicht verhindern, dass es das tut. Aber niemand hindert uns, das Gebräu zu trinken und den Krug danach voller Trotz gegen die Wand zu werfen – Trauer und Ärger hinauszuschreien, sich davon aber nicht entmutigen zu lassen.«

Kurz verstummte er. Dann sah er auf. »Das Buch in Euren Händen schrieb ein Weltenbummler Arkanas, der wie Ihr seine Familie verlor. Er beschloss, es dem Leben zu zeigen und in die Welt hinauszusegeln. Ihr seid jung, Ihr seid kräftig. Lest in diesem Buch. Füllt Euren Kopf mit neuem Wissen! Spült den üblen Trank mit einem guten Tropfen nach.«

Er sah er mich an, als ob er auf etwas warten würde.

Ich schlug das Buch auf.

»Hier vorne seht Ihr eine Karte der bekannten Welt.« Er beugte sich vor und deutete in Richtung des Buches. »Und dort im Nordwesten – dort liegt Val’Odar. Der Legende nach gab es früher nur Odar. Vale habe sich über Nacht aus dem Wasser heraus erhoben. Man erzählt sich, dass Vale von Frauen regiert wird. Es sei eine freundliche Halbinsel, auf der Fremde jederzeit willkommen seien. Ich selbst war niemals dort. Aber so berichtet es jeder, der von dort kommt. Odar dagegen …« Der alte Mann fuhr sich mit der Hand über den Mund. »Solltet Ihr jemals eine Reise unternehmen, so legt vielleicht dort nicht als Erstes an.«

»Aber Odar ist das Land, aus dem diese Narsis kam?«, fragte ich.

Der grauhaarige Bibliothekar nickte. »Und die Bücher der Narsis sind gleichzeitig der Grund, warum man sich Fremden gegenüber eher unzugänglich zeigt.«

»Aber – was hat denn die Narsis gesagt?«

»Ich mache Euch einen Vorschlag, junger Freund. Ihr lest zunächst einmal dieses Buch da.« Er deutete auf die Reiseberichte. »Euer Freund, der Fährmann, legt hier regelmäßig an. Kommt danach wieder.«

»Und warum beantwortet Ihr meine Frage nicht?«

Der Alte beugte sich nach vorn. »Weil ich Euch nicht den Schlaf rauben will. Dieses Buch hier«, er deutete auf den vergangenen Tod, »enthält furchtbare Visionen.« Er funkelte mich an. »Visionen, welche man in Odar für wahr hält. Die Texte in diesem Buch sind tausend Jahre alt. In Odar sind sie so gegenwärtig, als hätte man sie gestern erst verfasst. Und dieses Werk hier mit dem Titel Das Leben – die Narsis hat darin einige Vorkommnisse so exakt vorausgesagt, dass sie sich in den Wissenschaften weit über die Landesgrenzen Odars Anerkennung erworben hat.«

Der alte Mann klopfte wieder auf das Buch Der vergangene Tod. »Die gleiche Narsis, die dies hier schrieb, nahm sich nach dem letzten Satz ihres Werkes das Leben. Sie stürzte sich in Odar von einer Klippe.«

»Vor tausend Jahren?«, fragte ich.

Der Alte nickte und verzog den Mund. »Ich lese Euch ihre letzten Zeilen vor. Dabei möchte ich es aber fürs Erste belassen.«


In den letzten Tagen, Suchender, wird man dich nicht mehr aus dem Leben scheiden lassen. Darum gehe jetzt. Der Weg ist offen. Noch ist der Weg offen. Gehe, solange Zeit ist.

Wenn dereinst die Tür verschlossen wird, lässt man dich nicht mehr eintreten. Du wirst im Leben gefangen sein.


Ich senkte die Augenbrauen und blickte zu Kamo. Auch der hatte die Stirn in Falten gelegt. 

»Da steht«, begann ich. »Da steht …«

»Dass es so etwas wie das ewige Leben gibt«, sprach der alte Mann.

»Aber dieses ewige Leben sei so grauenhaft …«, folgerte ich. 

Der alte Mann nickte. »Dass die Narsis dazu aufrief, es zu beenden, solange der Weg in den Tod noch offen wäre.«

»Und sich danach von einer Klippe in den Tod stürzte?« Ich blies Luft durch die Lippen.

»Und nun, junger Freund.« Der Alte klopfte auf das Buch Das Leben. »Nun stellt Ihr Euch die gleiche Frage wie viele Wissenschaftler der bekannten Welt. Die Narsis war unverkennbar eine Seherin, welche vieles in diesem Buch so lebenswirklich beschrieb, dass ihre Worte über jeden Zweifel erhaben sind. 

Aber welche düsteren Geschehnisse sah sie nun, die sie in ihren Büchern zum zukünftigen und zum vergangenen Tod niederschrieb? Sah sie Dinge, die eines Tages wirklich eintreten mögen? Oder hat sie irgendwann den Verstand verloren?«

Pilao

Ich freute mich sehr über das Buch des alten Mannes. Doch zum Lesen sollte ich so schnell nicht kommen, denn die Rückreise nach Pilao gestaltete sich schwierig: Schlimme Stürme tobten. Und als sie endlich abebbten, war es nötig, Kamos Passagieren Beistand zu leisten. Einige hatten bereits mit ihrem Leben abgeschlossen. Wenn die See etwas zur Ruhe kam, fiel ich in den Schlaf, bevor ich auch nur daran dachte, das Buch auszupacken.

Dann endlich legten wir wieder in Pilao an. Eine gute Woche hatte meine kleine Reise gedauert. Kamo und ich tranken auf unsere Ankunft und es war längst dunkel, als ich mich erschöpft auf meinem Lager niederließ.

Entnervt atmete ich aus. Dann entzündete ich eine kleine Öllampe, öffnete mein Lederbündel, das ich mit viel Fett behandelt hatte. So konnte ich auch auf dem Wasser Dinge mitführen wie Zündhölzer, welche trocken bleiben sollten. 

Auch wenn uns die Reise sehr durchgeschüttelt hatte – Flasche und Buch hatten alles unbeschadet überstanden.

Ich hob das Buch vor das Licht – und ließ es wieder sinken. »Die Narsis«, murmelte ich. Und als ich die Flasche öffnete, stand plötzlich Kamo in der Tür.

»Ich hab noch was für dich«, sprach er. »Der alte Mann, dieser Bibliothekar, kam vorn unserer Abreise noch einmal zu mir. Er sprach sonderbare Dinge.«

Ich blickte Kamo fragend an. 

»Er sagte, wenn die Reise ruppig werden würde und wir überleben, solle ich dir diesen Umschlag übergeben. Ich hab ihn ausgelacht, weil sieben Sonnen am Himmel standen. Du warst ja dabei. So schlimme Stürme habe ich seit Jahren nicht erlebt.«

»Und das da hat er dir gegeben?«

Kamo drückte mir den Brief in die Hand.

»Versiegelt?«, sprach ich. 

»Er sagte mir, dass der Inhalt nur für deine Augen bestimmt sei. Ich lass dich dann jetzt allein.«

In der ihm eigenen Gleichgültigkeit verließ Kamo meine Hütte. Es war nicht zu erwarten, dass er draußen durch das Fenster schauen würde. Ich selbst wäre vor Neugier wahrscheinlich gestorben. Für ihn aber schien es kein Problem zu sein.

Das Siegel beeindruckte mich hinreichend, um den Riegel vorzuschieben. Aufgeregt brach ich es auf und entfaltete ein Pergament. Dies war kein Briefbogen. Es handelte sich um eine herausgerissene Buchseite. Eine sehr alte Buchseite. Ich müsste mich sehr täuschen, aber sie ähnelte einer Seite aus dem alten Buch der Narsis. 

Ich stellte die Lampe neben mich und las.


Du bist allein. Du bist unscheinbar.

Du kommst aus der Wärme. Du gehst in die Kälte.

Schaust du ins Glas, folgt die Erkenntnis, nicht der Rausch.

Du bist unscheinbar. Du bist kein Bollwerk. Denn es steht geschrieben, doch nicht dort, wo sie es suchen. Du weißt, wo es geschrieben steht.

Bedenke – ein kleines Feuer löscht man mit Wasser. Ein großes, Suchender, bekämpft man mit Feuer. Du bist eine kleine Flamme, ein Funken der Unendlichkeit. Du bist unscheinbar.

Jemand sprach von einem Trank. Weißt du, was mit dem Krug zu tun ist? Sie alle wollen verstehen. So viele Gelehrte, so viele Gescheite. Doch vor dir, Suchender, liegt kein Weg, der zu verstehen ist. Zu gehen ist er.

Du bist kein Bollwerk. Du bist unscheinbar. Du bist keine Flamme. Du bist ein Funken. 

Frag nicht den, welcher dir in den Sinn kommt. Er wird dir nicht helfen. Denn du bist unscheinbar. Er nicht. 

Manche glauben mir. Manche wollen mir glauben. Manche sagen, dass sie mir glauben. Andere glauben mir nicht. Ob du mir glauben wirst, Suchender – ich kann es nicht sehen. Welche Bürde.

Sprich nicht mit dem, welcher dir in den Sinn kommt, Suchender. Sprich nicht. Bleibe unscheinbar. Lass mit dir sprechen.

Der Weg – du musst ihn nicht verstehen, den Weg. Du musst ihn gehen. Denke an den Krug.

Ich kann nicht sehen, was du tust. Was für eine Bürde.


So weit dann zu meiner Nachtruhe. 

Ich las den Zettel mehrmals – legte ihn wieder weg, löschte das Licht und versuchte zu schlafen. Kurz danach hielt ich ihn wieder in den Händen. Und je öfter ich diesen Bogen Pergament in den Fingern hatte … – ja, es war Pergament, kein Papier.

Je öfter ich diesen Bogen jedenfalls betastete, desto überzeugter war ich, dass dieser alte Bibliothekar ihn aus seinem wertvollen Buch herausgerissen hatte. Es war so kostbar, dass er mir verwehrt hatte, es überhaupt zu berühren. Nun hatte er mir eine Seite daraus geschickt, die Angaben enthielt, die auf mich zu passen schienen. 

Du bist unscheinbar. Das war ich ganz sicher.

Es würde etwas geschrieben sein, so sie es nicht suchen. War hier von einem Feind die Rede, vor dem ein Text verborgen gehalten werden soll? Sollte dieser Text die Flaschenpost sein? Wahrscheinlich schon, denn ich würde ins Glas schauen und daraus nicht Rausch, sondern Erkenntnis ziehen.

Als ob es noch Zweifel daran gäbe, beschrieb dieser tausend Jahre alte Text, dass ich von der Wärme in die Kälte gehen würde. War damit die Reise von meiner sonnigen Insel Pilao ins Eisland gemeint? 

Wie sollte ich mich nun verhalten? Ich war immer wieder kurz davor, aufzustehen und Kamo zurate zu ziehen. Wäre da nicht der Hinweis, ich solle mit niemandem sprechen.

Nach dem siebten oder achten Mal, das ich diesen Zettel hervorgekramt hatte, erlosch meine Lampe. Ich beschloss, nicht aufzustehen, um sie erneut mit Öl zu füllen. Stattdessen versuchte ich zu schlafen. Das gelang mir eher schlecht.

Schließlich muss ich dann doch eingenickt sein. Und ich träumte von einem Klopfen an der Tür. Es pochte und pochte – ich begann zu fluchen und schließlich … erwachte ich. Schnell stellte ich fest, dass da tatsächlich jemand pochte. 

Ich stand auf, trottete zur Tür und schob den Riegel zurück. Jemand fiel mir entgegen.

»Kamo?«

Er trat ein, ohne um Erlaubnis zu fragen. Er griff nach dem Krug mit Met, den wir aus Mooyan mitgebracht hatten, nahm einen Becher, schenkte ein und trank ihn in einem Zug aus. 

»Was ist los, Kamo?«, fragte ich.

»Was stand in dem Brief gestern?«, erwiderte er. 

Ich stockte – wollte etwas sagen, aber er deutete mit dem Zeigefinger auf mich.

»Belüg mich nicht, Tana! Erzähl mir keinen törichten Mumpitz!«

»Also …«, stotterte ich. Ich gestikulierte in einer Weise, wie jemand, der …

»Wenn du früher solche ausladenden Schlenker mit den Armen gemacht hast, Tana, dann kam danach niemals die Wahrheit.«

Ich atmete aus, ließ die Hände sinken und den Kopf ebenfalls. 

»Du sollst nicht darüber sprechen?«, fragte Kamo. »Hat er dir etwas geschrieben, worüber du nicht sprechen darfst?«

»Kamo, ich …«, begann ich. »Ich habe wirklich keine …«

»Hat er dir etwas geschrieben, über das du nicht sprechen darfst?«

Ich pustete Luft durch die Lippen. Blickte zur Decke. 

Kamo knallte mit der Hand auf den Tisch. 

Ich zuckte zusammen und blickte ihn mit aufgerissenen Augen an. 

Als er die Hand wegzog, lag auf dem Tisch ein zusammengerolltes Stück Papier, wie es gewöhnlich Brieftauben überbringen. 

»Du weißt, Tana, dass ich die offiziellen Meldetauben Mooyans immer wieder nach Pilao zurückschippere – und umgekehrt. Dass mit meinem Eintreffen auf Pilao, bereits die erste schon wieder im Kasten sitzt, ist sehr ungewöhnlich.«

Ich stierte auf die kleine Papierrolle auf dem Tisch. 

»Diese Nachricht erhielt ich. Wenn ich in deine ängstlichen Augen schaue, frage ich mich aber, ob sie nicht eher eine verborgene Botschaft an dich enthält.«

»An mich? Aber …«

»Der alte Mann, Tana. Der alte, grauhaarige Mann aus der Koram-Bibliothek …«

»Was ist mir ihm?«

»Du wartest tatsächlich auf etwas, Tana? Oder? Er hat dir etwas geschrieben und nun wartest du noch auf etwas?«

»Nein, Kamo, also …« Noch einmal atmete ich verlegen aus.

Kamo deutete wieder mit dem Zeigefinger auf mich. »Du, Tana, bist erregt. Du bist – sehr – erregt. Er hat dir etwas geschrieben, das dich beschäftigt. Und offensichtlich kannst, willst oder darfst du mit niemandem darüber reden.«

Er hob erklärend die Hände. »Ich schippere ständig Leute nach Mooyan und wieder zurück. Einige dürfen reden, einige wollen reden. Einige müssen offenbar reden, weil es ihnen nicht möglich ist, ihren Mund geschlossen zu halten. Ich bin keins dieser Waschweiber hier, Tana, die nichts erleben. Wenn du schweigen willst, schweig. Es ist in Ordnung und es tut mir leid, wenn ich dich in Verlegenheit gebracht habe. Du sollst aber wissen, dass dieser alte Bibliothekar nicht mehr am Leben ist.«

Ich riss die Augen auf. »Nicht mehr am Leben? Ist er …«

»Er hat sich eins dieser alten Bücher gegriffen, aus denen er dir vorgelesen hat, Tana. Damit hat er sich von einer Klippe gestürzt. Ganz so, wie die Narsis es tat – vor tausend Jahren.«

»Er ist tot?« Ich fuhr mir durchs Haar.

»Er ist tot«, bestätigte Kamo. »Und mit dieser Nachricht hier«, er deutete auf den Tisch, »hat man mich informiert, dass man mit der Bestattung auf mich warten wird.«

»Auf dich warten?«

»Tana! Auf Mooyan bestattet man seine Toten, indem man sie in der Erde begräbt.«

»Aber …«

»Richtig, Tana. Wenn ich mich gleich auf den Weg mache, werde ich in zwei, drei Tagen dort sein. Es ist Sommer. Die Leiche würde stinken und verfaulen. Deshalb hat er sich verbrennen lassen, der alte Mann. Und er möchte, dass ich seine Asche über dem Meer verstreue.«

Kamo hielt inne. Und ich sah ihm wechselweise in die Augen und wieder unter mich. Dann stand Kamo auf.

»Ich werde mich jetzt auf den Weg machen und dem alten Mann seinen letzten Wunsch erfüllen. Möchtest du mitkommen, Tana?«

»Ich … ich …«

Kamo hob die Hand. »Tana«, begann er mit ruhigem Ton. »Nehmen wir einmal an, ich würde jetzt nach Mooyan reisen und in einer guten Woche wieder zurück sein. Nehmen wir weiter an, ich würde dich hier nicht mehr antreffen. Wäre es dann in deinem Sinn, wenn ich gelegentlich nach deiner Hütte sehe?«

Ich atmete tief ein – und genauso tief wieder aus. 

Kamo nickte. »Du weißt gerade selbst nicht, ob du dann noch hier sein wirst oder nicht. Der alte Mann hat dir verstörende Dinge geschrieben und ich bringe dir heute eine dazu passende verstörende Nachricht. Es würde mich wundern, wenn er mit seinem letzten Wunsch wirklich ein Seebegräbnis haben wollte.«

»Ja, aber – was sollte er denn sonst gewollt haben?«

Kamo machte eine Geste, als sei das offensichtlich. »Was immer er dir geschrieben hat, er wollte, dass es durch seinen Tod eine besondere Wichtigkeit erfährt.«

»Aber …«

»Warum er mir schreiben ließ, Tana? Weil man dich nicht kennt. Ich dagegen bin bekannt auf der Løtaja. Er konnte sich ausrechnen, dass ich mit dir über seinen Tod sprechen würde.«

Kamo atmete ein und blickte mir verständnisvoll in die Augen. »Nimm dir Zeit, Tana. Wenn du jemanden zum Reden brauchst, werde ich da sein. Wenn jemand nach dir fragt, werde ich sagen, dass es einen entfernten Verwandten gibt, der dir eine Botschaft gesandt hat. Und dass du dich dorthin aufgemacht hast.«

»Das würdest du tun?«

Kamo senkte den Kopf und blickte mich einen Moment an. Dann begab er sich zur Tür. »Ich lass dich jetzt allein.«

Mit einem Rumms schloss er die Tür hinter sich.

Ich kramte erneut die Flaschenpost hervor.


Wir sind im Eisigen Reich gestrandet. Dort haben wir uns zu den östlichen Klippen durchgeschlagen. Helft uns!


»Ich bin unscheinbar«, murmelte ich. »Ich mache mich auf den Weg von der Wärme in die Kälte. Ich rede mit niemandem.«

Der alte Mann hatte mir dieses Buch gegeben – diesen Reisebericht. Die kleine Seekarte vorne auf den Doppelseiten war alles, was ich hatte von der bekannten Welt. Ich blätterte nach dem Eisland und erfuhr die erste Ernüchterung. Der Autor dieses Buches hatte es nicht gefunden. Er vermutete, dass es eine bewegliche Eisscholle sei – wahrscheinlich östlich über Val’Odar.

»Val’Odar«, raunte ich und zog mit dem Finger eine Linie in den Norden. Kurs Nord – so einfach wäre es, gäbe es nicht die Œkenà-Untiefen. 

Ich würde also Kurs Mooyan nehmen, Mooyans Insel Æhrenau im Osten passieren, dann nach Nordwest schwenken, an der Küste des Çakovo vorbei. So würde ich die Untiefen umschiffen und könnte an der Ostseite von Vale entlang Richtung Eisland schippern. Da die Menschen auf Vale freundlich sein sollen, könnte ich dort neuen Proviant an Bord nehmen und ein wenig verschnaufen. 

Ich blies die Backen auf und pustete Luft durch die Lippen. Die Nacht war kurz gewesen. Niemand zwang mich, etwas zu überstürzen. Ich packte einige Dinge zusammen, ging hinunter ans Wasser und legte mich dort in die Dünen. Ich döste ein wenig vor mich hin, blickte über das Meer und holte noch einmal diesen Reiseführer hervor. 

Mit dem Finger fuhr ich die Inseln der bekannten Welt ab: Arkana, Egyras, Faria, aber auch Val’Odar. Seekarten hatten mich immer schon fasziniert. Was mochte sich wohl verbergen hinter diesen vielsagenden Inselnamen?

Meine Reise nach Mooyan hatte mich neugierig gemacht. Diese riesige Bergkette, der Langhöcker, die mächtige Bibliothek. Was werden sich die Völker wohl alles erdacht haben? Wie würden die Menschen aussehen? Im Norden hätten sie angeblich fahle Haut. In Egyras wären sie dunkelbraun wie eine Kokosnuss. Und jemand aus Faria, der einst Pilao besuchte, hatte mandelförmige Augen und rötlich schimmerndes Haar.

Viel wusste ich nun wirklich nicht von der Welt.

Ich benetzte meinen Finger und hob ihn. Ostwind, dachte ich. Auf der Karte fuhr ich den Weg ab. Auf Halbwindkurs nach Mooyan – besserer Wind würde es kaum werden. 

Ich hob den Mundwinkel. »Blauer Himmel.«

Die Unwetter hatten sich verzogen. Das musste freilich nichts heißen, denn es kann schnell gehen – auf See. Ich sprang auf, warf mein Bündel in meine Jolle und schob sie ins Wasser. 

Zwei Boote von Freunden passierte ich. Ich winkte ihnen zu. Für mich war es ein Abschiedsgruß. Sie würden glauben, dass ich fischen gehen oder in den nahem Untiefen nach Schwämmen tauchen würde. Ich aber setzte Halbwindkurs in den Nordosten, nach Mooyan.

Noch einmal kramte ich den Kompass hervor, prüfte die Richtung. Ein Blick in die Karte. Wie viele Seemeilen mochten es sein. Fünfzig? Hundert? Ich fühlte erneut das Pergament und las es. Ohne dessen Anstoß hätte ich mich mit einem so kleinen Boot sicher nicht auf die Reise begeben. Es hatte mir Mut gemacht.

Ich war nur ein kleines, unscheinbares Tierchen in einem riesigen Ameisenhaufen. Doch im Gegensatz zu den anderen war ich bereit, aufzubrechen, um Neues zu entdecken. Vielleicht würde es eines Tages dem ganzen Stamm zugutekommen.

»Von der Wärme in die Kälte«, raunte ich und hob die Augen in Richtung der Sonne. Ab sofort war ich auf Rettungsmission.

Ich würde diese armen Seelen suchen, welche die Flaschenpost gesandt hatten. Wenn ich damit einer tausendjährigen Prophetie folgte, so müsste eigentlich alles wie von selbst gehen. Wenn nicht, so wäre ich ein törichter, wunderlicher Kauz, der auf das törichte Wort von törichten, wunderlichen Menschen hörte, um törichte Dinge zu tun. Ich würde entweder ein Abenteuer erleben oder einen törichten Tod sterben.

Ich verzog den Mund und erinnerte mich an den alten Mann und seine Worte über den üblen Trank und den Krug. Es war mir, als wäre ich zum ersten Mal seit dem Tod meiner Eltern den Launen des Lebens nicht mehr hilflos ausgeliefert. Im Gegenteil. Ich würde denen zu Hilfe kommen, an deren Kummer sich das Leben gerade ergötzte.

Den üblen Trank – ich hatte ihn geleert. Das Leben hatte mich betrogen. Der Tod sowieso. Die Zeit des Weinens lag hinter mir. Nun war es an mir, zu zeigen, was der Tank aus mir gemacht hatte.

Ich fühlte mich, als ob ich diesen Krug nehmen und ihn dem Leben ins Gesicht werfen würde. Als ob ich Leben und Tod zornig entgegenhielte: »Ihr beiden könnt mich nicht mehr schrecken! Denn was solltet ihr mir Schmerzlicheres antun, als hinter mir liegt?«

 Leben und Tod hatten sich gegen mich verschworen. Nun, was immer die beiden Widerlinge planten – ab sofort würden sie mit mir zu rechnen haben. Aber das taten sie sicher nicht, denn ich … war unscheinbar.

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