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Outtake aus Mooyan 1: Arkana-Bruderkrieg

von Thomas Poppner

Arkana-Bruderkrieg

An diesen Texten hing ich sehr, auch wenn sie irgendwie langatmig waren und nicht so wirklich aus dem Quark kamen.

Einige Testleser machten Vorschläge, dass ihnen die Texte zu langatmig waren und gleichzeitig stellten sie so viele Fragen, dass ich einen eigenen Band aus dieser Geschichte hätte machen können.

So entschied ich mich dazu, aus dieser Arkana-Story das zu machen, was sie eigentlich ist: Ein kleines Detail in der Gesamtgeschichte. Ich warf alles raus und sah die Texte nach Abschnitten durch, die die Gesamtstory unterstützen. Alles andere wurde neu zusammengebunden.

So ist die heutige Version deutlich knackiger. Einige bemängeln, sie sei zu kurz. Die einzige Lösung, die ich sehe, um sie ausführlicher zu machen, wäre, einen eigenen Band dazu zu schreiben. Dazu ist sie mir bisher nicht wichtig genug gewesen.

Die Texte sind überschrieben mit einem Rückblick in die Vergangenheit. Denn sie waren jeweils zwischen die Abenteuer von Tana in Odar gemischt. Beide Geschichten wurden also quasi parallel erzählt, bis sie irgendwann in der Gegenwart aufeinandertreffen würden.

Wer also Lust hat, findet hier die alte Version der Arkana-Berichte. Damals hieß die Insel noch Aragnar und die beiden Landesteile Ost und West hatten noch eigene Namen.

Der Fischer Tana vor einem Segelschiff

Hilfe

Ich bin Malangar, Bibliothekar und Chronist des Archipels Mooyan, wo das Hohe Haus des Völkerrates seinen Sitz hat. Mit großer Hingabe habe ich für Euch – werter Leser, verehrte Leserin – die Geschichte von Brachlons Erwachen recherchiert und zusammengestellt.

Tana, den Fischer aus Dal, werde ich später wieder zu Wort kommen lassen. Doch nun – werter Leser, verehrte Leserin – erlaubt mir, eine Zäsur zu setzen, um Euch die Ergebnisse meiner Recherchen aus dem Land des Drachens vorzulegen – aus Aragnar. Dort sprach ich mit dem König, seinem Adel; ich interviewte die Chroniker und befragte sogar das Gesinde bei Hofe. Denn in allen Herrschaftshäusern haben die Wände Ohren.

Der Fischer Tana hatte – wie wir lesen konnten – große Freude daran, seine Erlebnisse mit eigenen Worten zu Papier zu bringen. Ich habe mir erlaubt, mich an seiner Abhandlung zu orientieren. Sie bildet gleichsam das Rückgrat meiner Chronik. Was die anderen von mir Befragten betrifft, so führte ich deren Schilderungen zusammen, stellte zahlreiche Rückfragen und fügte sie dann zwischen Tanas Reiseberichten ein. Mein Ziel war es, ein ebenso fesselndes wie umfassendes Bild der Ereignisse zu zeichnen – lebensnah, denn der drögen Geschichtsbücher gibt es zur Genüge.

Bevor wir nun aber ans Werk gehen, möchte ich Euch – verehrter Leser, werte Leserin – einen erklärenden Satz zu den in unserem Land üblichen Maßeinheiten anfügen. Wir beschreiben Längen in Klaftern und Tiefen in Faden. Beide Einheiten entsprechen mit sechs Fuß etwa einer Mannlänge. Notiert Euch dies, falls Euch die Begriffe fremd sind.

Damit sind der erklärenden Worte genug geschrieben. Es bleibt mir an dieser Stelle nur noch, eine kurzweilige und lehrsame Lektüre zu wünschen. Wir werden nun einen kleinen Zeitsprung machen. Denn wie die beiden Gestalten Pjoktor und Sanjok in das Eisige Reich gelangt sind, darüber gibt es nur Spekulationen. Wohl aber haben wir Kunde davon, was sie vorher taten. Drehen wie also die Uhr, vom Tag als sie den Fischer Tana über Bord warfen, um zwölf Monate zurück.


Ein Jahr zuvor im Land des Drachens

Es war im siebten Monat der Regentschaft König Sommans, Thronerbe des großen Herrschers Argors, als des Königs Geheimrat im Hof von Burg Drachenblick tot aufgefunden wurde. Man vermutete, dass er zu sehr dem Alkohol zugesprochen hatte und von einem Balkon gefallen war. Seine Nachfolge trat Pjoktor an, ein Ritter im Diplomatendienst der Krone, dessen Haltung stolz war, dessen Wort bestimmt und dessen Urteil gerecht. Die Ernennung zum Geheimrat kam für ihn allerdings überraschend.

»Wisst Ihr, Ritter Pjoktor, warum Wir Euch zum Geheimrat ausersehen haben?«, hatte der König nach der Ernennung gefragt.

»Um offen zu sein, mein König. Ich habe nicht die geringste Ahnung. Auf manche meiner Reden hattet Ihr in der Vergangenheit so impulsiv reagiert, dass ich eher damit rechnete, aus dem Rat der Tafelrunde ausgeschlossen zu werden.«

»Wir sind ein König, der die Gegenrede schätzt – im Privaten.«

»Und darum wählt Ihr mich zum Geheimrat?«

»Ein Geheimrat redet gewöhnlich privat mit seinem König. Und wenn Wir nur Unsere eigene Meinung hören wollten – Wir könnten mit dem Spiegel sprechen oder Uns einen Papagei zulegen.«

»Ihr möchtet also, dass ich Euch herausfordere, Euch widerspreche?«

»Wir wünschen, dass Ihr Uns reizen möget. Wir wünschen, von Euch hinterfragt zu werden. Wir wünschen auch, auf Euren Widerspruch zu treffen, wenn Euch Unsere Entscheide nicht einleuchten – im Privaten, nicht vor den Leuten.«

»Aber, wenn ich fragen darf, König. Warum gerade ich? Ich habe niemals zu Euren vertrautesten Rittern gehört.«

»Ihr mögt nicht zu Unseren Verbundendsten gehört haben, Ritter Pjoktor. Aber Ihr hattet immer Unsere Achtung und Unser Vertrauen. Eure Erfahrungen sind für Uns sehr wertvoll: Ihr habt im Heer gekämpft. Zunächst als einfacher Soldat, später als Hauptmann. Ihr wart in der Flotte Unseres Vaters auf diplomatischer Mission unterwegs, habt die komplette bekannte Welt bereist. Ihr habt bei vielen Herrschern zu Tische gesessen. Ihr kennt die Mentalitäten der Welt und habt mehr Erfahrungen als alle anderen Ritter der Tafelrunde. Aber genug der Vorrede, Ritter! – Welches ist Euer erster Rat an Uns? Gibt es etwas, das Euch ein besonderes Anliegen ist?«

»Gebt mir einen Moment, mein König.«

»Er sei Euch gewährt. Es wäre Uns allerdings ein Anliegen, keine ausgefeilte Rede von Euch zu Eurem Amtsantritt zu erhalten. Sicherlich brennen Euch verschiedenerlei Dinge auf den Nägeln. Wählt unter den Begebenheiten, die Euer größtes Missfallen erregten, diejenige aus, die Ihr für die nennenswerteste einschätzt.«

»Gut, mein König.« Ritter Pjoktor blickte einen Moment Worte suchend zu Boden. Dann sah er auf. »Ich will Euer Problem lösen, mein König.«

»Problem? Welches Problem?«

»Lasst uns einen Moment offen reden, König. Es war nicht recht von Eurem Vater, das Königreich zu teilen. Ihr, als der Erstgeborene, habt Anspruch auf den Thron Aragnars – auf den Thron ganz Aragnars.«

»Ihr mögt weitersprechen.«

»Euer Bruder ist der Zweitgeborene. Ihm gebührt kein Thron.«

»Unser Vater hat entschieden, dass Aragnar in zwei Reiche geteilt werde und von Uns und Unserem Bruder regiert zu werden sei.«

»Euer Vater war ein weiser Mann, König. Er wollte die Macht in der Familie festigen. Aber nun teilt Ihr Euch das Königreich mit einem, der nicht dazu bestimmt ist. Euer Vater hat töricht gehandelt!«

»Achtet auf Eure Worte, Ritter!«

»Verzeiht, ehrwürdiger König Somman, aber Euer Vater hat Euch vor allen Leuten beschämt. Er zeigte damit, dass er Euch nicht zutraut, das Reich allein zu regieren!«

»Kommt zur Sache, Ritter. Wie ist Euer Vorschlag?«

»Macht Aragnar wieder stark, König! Macht eins aus dem, was zusammengehört.«

»Wie sollen Wir das erreichen? Durch einen Krieg? Wir werden Uns auf keinen Krieg einlassen. 

Ihr habt recht: Unser Vater hat … eine unglückliche Entscheidung getroffen. Unser Vater hat … Uns beschämt. Aber deswegen ein Krieg? Ein Wort, das Herrschern mit schwachem Eigenbild zu leicht über die Lippen kommt. 

Wir sind ein König für das Volk. Und für das wäre eine Fehde katastrophal. Wir verstanden Uns immer gut mit Unserem jüngeren Bruder und werden das Reich im Sinne Unseres Vaters regieren.«

»Sagt mir, König. Wir lange herrscht Euer Geschlecht schon über den Ragon? Seit wie vielen Generationen ist es Euer Blut, das über die Geschicke Aragnars wacht?«

»Sieben Generationen sind es.«

»Richtig, König. Und sechs Generationen lang lag das Zepter ungeteilt auf Burg Drachenblick an der Nordspitze des Ragon.«

»Unser Vater teilte die Macht zwischen seinen Söhnen auf, um niemanden zu übervorteilen. Sein Wille war es, dass die Söhne Argors das Land des Drachens als zwei starke Brüder regieren – besser als einer allein es könnte.«

»Gut, König. Ich hatte angenommen, dass Euer Vater Euch nicht den Thron zutraute. Wenn es sich so darstellt, wie Ihr sagt, dann ist es so, dass er Eurem Bruder nicht vertraute. Und deshalb gab er ihm ein halbes Königreich?«

»Er wollte, dass seine Söhne in Frieden und Einheit herrschen. Er wollte vermeiden, was in manch anderen Dynastien geschah: Dass sich Brüder gegeneinanderstellen.«

»Sagt mir, König. Ist dies eine Entscheidung, die auch Ihr getroffen hättet? – Euer Zögern verrät Eure Gedanken. Ihr seid der rechtmäßige Erbe. Euch gebührt der Thron, nicht nur östlich des Ragon, sondern über ganz Aragnar. Ihr seid der, dem Euer Bruder Wandûn Ehrerbietung entgegenbringen müsste. Stattdessen habt Ihr Euch zu verbeugen, wenn Ihr den Westen besucht.«

»Pjoktor, mein Freund. Ihr habt ein brennendes Herz. Aber Wir wollen keinen Krieg mit Unserem Bruder. Es ist wahr. Uns, König Somman, dem Erstgeborenen, wurde unrecht getan. Aber es ist geschehen – Unser Vater hatte es so bestimmt. 

Wir, der König des Landes östlich des Ragon, werden mit Unserem Bruder in keinen Streit darüber treten. Ein Krieg würde nur die Bürger in Mitleidenschaft ziehen. Das ist nicht im Sinn des Landes und Unserer Untertanen, für deren Wohl Wir verantwortlich sind.«

»Gut gesprochen, König. Ihr seid ein weiser Mann und Eure Untertanen können sich Eurer glücklich schätzen. Aber sagt mir: Wenn ich Euch einen Plan offerieren könnte, durch den weder Eurem Bruder noch einem Bewohner Aragnars ein Haar gekrümmt werden würde …?«

»Ihr wollt den Westen des Landes durch eine List mit Uns vereinen?«

»Krieg, König, wird nicht nur mit Waffen geführt. Das Schwert eines geschickten Diplomaten kann mehr erreichen als zehntausend Krieger.«

»Und Ihr wisst, ein solches Schwert zu führen, Ritter?«

»Ich bin viel herumgekommen im Dienste Eures Vaters.«

»Wir sind über Eure Expeditionen im Bilde.«

»Dann lasst mich Euch gleich morgen einen Plan vorlegen, der Euch zurückgibt, was Euer ist!«

»Wir werden Euch morgen um die gleiche Stunde erwarten, Ritter.«

Eine Woche später – linksseitig des Ragon

Mit versteinertem Gesicht verlas König Wandûn vor seinen Grafen ein Dekret von König Somman, seinem Bruder. 


Wir, König Somman, Monarch von Ragon-Şalk, des Ostteils Aragnars, der Dracheninsel, konkretisieren den Rechtsanspruch, der Uns durch Unseren Vater, den großen König Argor, vererbt wurde. 

Unser Vater entschied, dass Wir, König Somman, den Osten des Reiches regieren, während Unser Bruder Wandûn den Westen übertragen bekam. Trennlinie sollte das Gebirge des Ragon sein – der Große Drache. 

Da ein exakter Grenzverlauf nicht definiert wurde und Wir der Erstgeborene sind, beanspruchen Wir, König Somman, den Ragon für den Ostteil Aragnars: von den westlichen Ausläufern bis zur Ostküste, mit den Bodenschätzen und den Grafschaften Ottwang und Sulaj. 

Gezeichnet: König Somman, Monarch von Ragon-Şalk.


König Wandûn blickte auf. Einen Moment lang war es gespenstisch still.

Dann erhob sich jemand. »Euer Bruder beansprucht die Grafschaften Ottwang und Sulaj? Was wird dann aus uns?«

»Graf Ottwang. Ich habe nach Euch schicken lassen, nicht, um einen Disput zu führen. Ihr seid hier vor Euren König gekommen, um meine Entscheidung – die Entscheidung Eures bisherigen Königs – zu hören.«

»Unseres bisherigen Königs?«

»Ich, König Wandûn, habe entschieden: Mein Bruder wurde durch die Entscheidung unseres Vaters bloßgestellt. Der Vater meinte es gut, als er sein Reich unter seinen Söhnen aufteilte.

Aber meinem Bruder hätte die Regentschaft über ganz Aragnar zugestanden. Unser Vater wollte weise handeln, weil er sah, dass wir uns gut verstanden. Er befahl: ›Ihr sollt zusammen regieren, zusammen Entscheidungen treffen und zusammen herrschen.‹ Und so gab er mir den Westen des Landes und verstand nicht, dass er meinen Bruder damit beschämte …«

»Ihr wollt das Ragon-Gebirge aufgeben?«

»Ich bin ein König für das Volk, Graf Sulaj. Was gibt es im Ragon, das so wertvoll wäre, die Blutbande mit meinem Bruder aufzukündigen?«

»Was bedeutet das konkret?«

»Das bedeutet konkret, Graf Ottwang, dass ich mit dem heutigen Tag, Eure Grafschaft wie auch die Grafschaft Sulaj meinem Bruder überschrieben habe. Ihr werdet ab sofort kein Lehen mehr an König Wandûn zahlen, sondern Euer neuer König wird Somman heißen.«

»Aber …«

»Kein Aber. Ich bin nicht bereit, darüber zu diskutieren, weil ich glaube, dass dadurch ein dauerhafter Friede mit meinem Bruder erreicht wird.«

»Aber Euer Bruder …«

»Mein Bruder ist kein schlechter Mensch, Graf Sulaj! Ich bin mit ihm aufgewachsen. Wir sind zusammen durch den Ragon gezogen, haben Frösche gefangen, Höhlen erkundet, sind in Bächen geschwommen. Ich werde kein Zerwürfnis zwischen uns kommen lassen, wegen eines Gebirges, das keinen großen Wert darstellt.«

»Keinen großen Wert? Reiche Bodenschätze sind dort verborgen.«

»Graf Sulaj, ich weiß, dass ihr Gold und Edelsteinen sehr zugetan seid. Ich herrsche allerdings über ein Land von Bauern. Ragon-Wôk lebt von Äckern und Weideflächen. Wir sind ein friedliches Land. Ein Land, dem es wohl ergeht, in dem jeder genug zu essen hat. Und ich wünsche mir, dass es so bleibt. – Das wäre alles!« 

Graf Ottwang bat um ein privates Gespräch

»König! Ihr könnt doch nicht allen Ernstes darüber nachdenken, eurem Bruder den Ragon zu überschreiben.«

»Natürlich kann ich das. Es gibt auch nichts zu überschreiben. Es ist schlicht niemals geregelt worden, wem das Gebirge gehört.«

»Aber das ist doch … Wahnsinn.«

»Ihr haltet den König von Ragon-Wôk für wahnsinnig?«

»Selbstverständlich nicht.«

»Der Ragon, Graf Ottwang, die Besitzverhältnisse des Ragon wurden von meinem Vater nicht festgelegt.«

»Aber das bedeutet doch nicht, König, dass das Gebirge deswegen an Euren Bruder fallen muss.«

»Graf Ottwang. Ich werde Euch nun etwas im Vertrauen zeigen. Mein Bruder und ich, wir pflegen einen gelegentlichen Austausch durch die Feder. Bevor dieses Dekret von ihm einging, brachte eine Brieftaube ein persönliches Schreiben. Er erklärte mir seine Situation und machte deutlich, dass es eine oppositionelle Gruppe gebe, die Aragnar wieder vereint sehen möchte. Er müsse daher Stärke zeigen. 

Aus diesem Grund hat er ein sehr direktes Dekret formuliert, im Wissen, dass unsere beiden Reiche im Frieden verbunden sind. Wir sind wie lokajanische Zwillinge. Keiner kann ohne den anderen. Er hat mir versichert, dass es unser Schaden nicht sein wird, wenn wir ihm nachgeben und Ragon-Şalk das Gebirge überschreiben.«

»Aber Majestät. Wenn ihr den Ragon aufgebt, gehört er nicht mehr zu unserem Land.«

»Er gehört nicht mehr zu meinem Land. Das ist richtig, Graf Ottwang, denn Eure Grafschaft ist nun meines Bruders Reich. Aber mein Bruder, König Somman, wird Wort halten. Er wird zu uns stehen und den Ragon sichern.

Denn sind wir einmal ehrlich zueinander, Graf: Mein Bruder war nicht nur zu Kinderzeiten der stärkere von uns beiden. Er ist es auch jetzt. Er hat die Waffenschmieden, die Armee, die Erze und die Kriegsgeräte. Ragon-Wôk dagegen besteht hauptsächlich aus Bauern, Landwirtschaft, Viehzucht. Als ich ein Knabe war, hat er mich beschützt. Heute mag es sonderbar anmuten, wenn ein König auf seinen Bruder vertraut. Aber auch heute hat er das Kriegsgerät. Wenn er sich den Ragon holen wollte, was könnten wir ihm entgegensetzen?«

»Aber …«

»Aber auch das Volk, Graf Ottwang, würde – ließe man ihm die Wahl – sich dem stärkeren Landesteil zuwenden. Mein Bruder Somman führt sein Reich nicht schlecht. Den Leuten geht es gut. – Nein. Ich werde meinem Bruder sein Zeichen der Stärke lassen und ihm zum Wohle ganz Aragnars den Ragon geben.«

»König, aber …«

»Das wäre alles, Graf!«

Elf Monate zuvor – rechts des Ragon

An dieser Stelle – verehrte Leserin, werter Leser – meldet sich wieder Malangar und entführt Euch in die Vergangenheit.

Wie Ihr sicher wisst, teilt das Ragon-Gebirge die Insel Aragnar in zwei Hälften. Dabei schlängeln sich die Berge wie ein Lindwurm durch das Land, weshalb man es auch das Reich des Drachens nennt.


»Lasst es gut sein, Ritter Pjoktor. Wir wollen unseren Bruder nicht übervorteilen.«

»Übervorteilen? Warum denn übervorteilen? König, Ihr wisst, dass Euer Bruder kein Herrscher ist. Er hat kein Regentenblut in sich.«

»Achtet auf Eure Worte, Ritter!«

»Ich will Euch nicht zu nahe treten, König. Aber wir wissen beide, dass Euer Bruder nicht wie ein König auftritt.«

»Wie meint Ihr das?«

»Er spricht von sich in der ersten Person.«

»Und Eurer Ansicht nach muss ein König von sich selbst in der Mehrzahl sprechen, damit er ein würdiger König ist?«

»Ihr tut das zumindest. Euer Bruder nicht.«

»Na, und? Großmogul Kobos redet von sich auch in der ersten Person.«

»Schon richtig, Majestät. Wenn Ihr dem Großmogul allerdings nicht den geforderten Respekt entgegenbringt, lässt er Euch ein Ohr abschneiden.« 

»Mein Bruder hat sich bewusst gegen den Pluralis Majestatis entschieden.«

»Es ist nicht nur das. Lasst mich Euch ein Beispiel bringen:

Ihr sprecht: ›Wir, der König, verfügen …‹ 

Euer Bruder dagegen murmelt: ›Ich hätte gern …‹

Hört Ihr den Unterschied?«

»Selbstverständlich erkennen wir einen Gegensatz im Verhalten Unseres Bruders zu Uns selbst. Aber Ihr müsst wissen: Das Verhalten Unseres Bruders hat eine Vorgeschichte.«

»Eine Vorgeschichte? Erzählt Sie mir bitte.«

»Wisst Ihr, Ritter, das Leben junger Prinzen unterliegt vielen Komplikationen. Diese beginnen schon damit, dass ein Prinz Burg Drachenblick niemals ohne Wachen verlassen durfte. Als Knabe akzeptiert man das, findet es sogar unterhaltsam, dass immer Bedienstete um einen sind. Zumal sie die jungen Prinzen auch zu unterhalten suchen, auf dass sie keinerlei Unfug treiben mögen. Aber wenn der Knabe heranreift, möchte er allein die Welt erkunden.«

»Ging Euch das auch so?«

»Aber natürlich ging es Uns genauso. Unser Bruder mag dreizehn, vierzehn gewesen sein. Er war vernarrt in Pferde und freundete sich mit einem unserer Stallburschen an. Wir waren gelegentlich mit der Königsgarde in die Berge geritten. Da diese Wachen aber persönlich für unsere Sicherheit verantwortlich waren, könnt Ihr Euch ausmalen, wie unentspannt sich die Situation darstellte. So tauschte Unser Bruder eines Nachts seine Robe gegen die einfache Kleidung eines Stallburschen und schlich sich auf geheimen Wegen vor die Burg, wo er ein vorbereitetes Pferd in Empfang nahm, um auszureiten. Er wollte einfach einmal Höhlen besuchen und das Reich erkunden, ohne dass ständig Beobachter um ihn waren.«

»Das ist interessant.«

»Was ist interessant, Ritter?«

»Ging es Euch auch so, dass Euch die Obhut bei Hofe lästig war. Viele Eurer Untertanen würden sich über diesen Schutz glücklich schätzen.«

»Es ging Uns auch so, Ritter. Und Euch wäre es ebenso ergangen. Im Gegensatz zu Unserem Bruder waren Wir jedoch pflichtbewusster.

Aber zurück zu Unserem Bruder Wandûn: Er ritt ins Gebirge, um von einer Anhöhe des Ragon aus die Aussicht zu genießen. Er kämpfte sich mit seinem Pferd nach oben, wo zunächst Schnee den Aufstieg erschwerte, bis die Wege schließlich vereist waren. Als hinter ihm ein Ast knackte, erschrak sein Pferd, bäumte sich auf, rutschte aus und ging dabei zu Boden.

Ob Wandûn sich sein Bein durch das Pferd brach, das auf ihn fiel oder erst später, weil er eine steile Böschung hinabrollte – er konnte es selbst nicht sagen. Tatsache war, dass Unser Bruder schwer verletzt am Fuße der Böschung in einem morastigen Sumpf liegen blieb. Später erzählte er, er habe lange um Hilfe gerufen, bis ihn endlich jemand fand.«

»Er wurde gefunden?«

»Ja, ein Bauer, der seine Schafe dort oben grasen ließ, hörte ihn. Er baute ihm eine Bahre.«

»Der Bauer baute eine Bahre? Warum holte er nicht die Wachen des Königs?«

»Weil Unser Bruder Bedenken hatte, der Bauer könne aus seiner Hilflosigkeit Kapital schlagen.«

»Euer Bruder dachte, der Bauer könne ihn entführen und Lösegeld verlangen?«

»Oder Schlimmeres. Unser Vater erzog Uns dazu, Abstand zum gemeinen Volk zu halten. Wandûn zeigte lediglich die Vorsicht, die Uns anerzogen worden war. Er hielt es für das Beste, sich für einen Wanderer auszugeben.«

»Und das gelang?«

»Vorerst schon. Der Schafhirte blieb in Wandûns Nähe und zeigte sich besorgt, dass ein Bär oder ein Wolfsrudel ihn finden könnte. Er suchte Stöcke und größere Äste zusammen. Dann flocht er damit eine Bahre, hob Unseren Bruder darauf und zog ihn eigenhändig den Berg hinunter zu einer kleinen Hütte. Dort nahm er Unseren Bruder auf.«

»Der Bauer nahm Euren Bruder auf? Hielt Wandûn seine Herkunft also weiterhin geheim.«

»Richtig, Ritter. Selbstverständlich hat der Bauer ihn nicht erkannt. Und je mehr Zeit verstrich, desto weniger traute sich Unser Bruder zu gestehen, dass er der Sohn des Königs war. Die Familie des Bauern war gut zu ihm und die Frau des Bauern schiente sein Bein und versorgte seine Verletzungen. Die beiden gaben Wandûn ihr Lager und beschlossen, ihn aufzunehmen, bis er wieder gehen könne.«

»Und Euer Bruder?«

»Er entschied, seine Lüge aufrechtzuerhalten. Wahrscheinlich fehlte es ihm einfach an Mut, seine tatsächliche Herkunft preiszugeben. So sah er die Not der einfachen Leute. Er hatte ständigen Umgang mit den drei Kindern der Familie, die ihn niemals allein ließen, zumindest nicht zu Anfang, als er noch Schmerzen hatte.«

»Er hatte also Glück?«

»Ja, aber er begann sich auch für seine Gastgeber zu öffnen. Schockiert musste er verfolgen, dass der Landesvogt zwei der acht Schafe als Steuer für den König in Beschlag nahm. Er war beschämt darüber, wie unfreundlich seine Retter von Beamten seines Vaters behandelt wurden, obwohl sie ihn – den Königssohn – aufnahmen wie ihr eigenes Kind. Er sah das harte Leben, das diese Menschen führten. Und die unwürdige Behandlung, die ihnen zuteilwurde.«

»Und – wie reagierte Euer Vater?«

»Oh, Unser Vater war außer sich. Er glaubte, sein Sohn sei entführt worden und schickte Soldaten durch das Land. Eines Morgens pochte es an der Tür der Bauernhütte. Noch bevor jemand öffnen konnte, wurde sie eingetreten. Fünf Gardisten stürmten herein, stießen Tisch und Schrank um, zerbrachen Krüge, und warfen alles durcheinander. Schließlich erkannte jemand Unseren Bruder, der sich zu verhüllen suchte.«

»Die Soldaten fanden Euren Bruder?«

»Richtig, Ritter. Sofort und ohne mit sich reden zu lassen, nahmen sie Bodras, den Hausherrn gefangen, legten ihn in Ketten und brachten ihn nach Drachenblick, wo Unser Vater, König Argor, den Bauern in einen Kerker werfen ließ.«

»Er ließ den Bauern in einen Kerker werfen?«

»Ja, Ritter. Genau das beschämte Unseren Bruder noch mehr. Er setzte sich nun bei Unserem Vater für diesen Bauern ein. Erst nach langem Zureden verstand Unser Vater das Missverständnis und ließ den Bauern wieder aus dem Kerker holen.«

»Dann wurde also noch alles gut?«

»Der Bauer war mit seinen Nerven am Ende. Er hatte doch nur helfen wollen. Er war bleich und ihm stand der Tod ins Gesicht geschrieben. Man ließ den Bauern frei – ohne Entschuldigung. Und Unser Bruder sprach mit Uns darüber, dass er über das Verhalten Unseres Vaters zutiefst beschämt sei. Wir suchten zusammen Unseren Vater auf und überredeten ihn, dem Bauer Bodras eine Belohnung zukommen zu lassen.«

»Das ist nur recht und billig!«

»Korrekt, Ritter. Unser Bruder und ich, wir debattierten sehr engagiert mit Unserem Vater und ließen nicht locker, bevor er zusagte, den einfachen Bauern zum Baron zu ernennen.«

»Der Bauer sollte in den Adelsstand erhoben werden?«

»Unser Bruder Wandûn selbst wählte den Adelsnamen aus: Freiherr von Königsgnaden sollte er lauten.«

»Freiherr von Königsgnaden?«

»Genau so, Ritter. Weil er Gnade gegenüber dem Königssohn gezeigt hatte. Unser Bruder bestand darauf, dass er den Bauern persönlich aufsuchen dürfe, um ihm die Urkunde seiner Ernennung zu übergeben.«

»Er wollte ihn aufsuchen, mit einem kaputten Bein?«

»Wir beschlossen, ihn zu begleiten. Eine Kutsche wurde bereitgestellt. Als wir dann losfuhren, sagte er: ›Bruder! Etwas an der Art, wie wir regieren, ist falsch, wenn wir, die wir im Überfluss leben, in so unflätiger Weise handeln wie an diesem Bauern, der mir half, ohne mich zu kennen.‹ Wandûn hielt lange Vorträge, was ein guter König besser machen sollte.«

»Euer Bruder hielt Euch Vorträge?«

»Das tat er. Schließlich hielt er Uns für den zukünftigen König. Und er hatte einige Stunden Zeit dazu, bis wir endlich mit einem halben Dutzend Soldaten an der Bauernhütte ankamen.«

»Die Bauersleute erschraken?«

»Bodras war noch nicht wieder zu Hause. Man hatte ihn einfach aus dem Kerker heraufgeschleppt und vor das Burgtor gestoßen – ohne Pferd, ohne Geld und ohne Verpflegung, wie er Uns später erzählte. So sahen wir in die ängstlichen Augen seiner Frau und seiner Kinder, denen ihr Ehemann und Vater von Soldaten unter dem Banner unseres Vaters entrissen worden war.«

»Und was tatet Ihr?«

»Unser Bruder Wandûn beruhigte Bodras’ Frau und wies seine Garde an, ihn zu suchen und wohlbehalten herbeizubringen. Als Bodras dann einen Tag später heimkehrte, ließ Uns Unser Bruder wissen, dass er sich niemals im Leben so verlegen gefühlt hatte. Er übergab Bodras den Titel und ein Dokument, aus dem hervorging, dass er ab sofort keinerlei Steuern mehr leisten musste. Und schließlich überreichte er ihm noch eine weitere Urkunde mit der Ernennung zum Baron und Freiherrn von Königsgnaden, in der ihm gleichzeitig das Land, auf dem er lebte, überschrieben wurde. Vom linken Horizont bis zum rechten.«

»Und was tat der Bauer?«

»Der sah Unseren Bruder ratlos an und sprach: ›Mein lieber Prinz. Ich danke Euch, obwohl die Hilfe, die ich Euch leistete, eigentlich jeder erbringen sollte. Und das Land, welches Ihr mir überschreibt: vielen Dank dafür. Es ist groß. Aber ist Euch bewusst, dass auf diesem Land zahlreiche Familien leben? Würde ich auf mein neu erworbenes Recht bestehen, was sollte aus ihnen werden? 

Aber danke, Prinz. Herzlich sei Euch Dank gesagt, in meinem Namen und im Namen aller, die auf diesem Lande wohnen. Denn dadurch, dass Ihr es mir übertragen habt, sichert Ihr nicht nur das Dasein meiner Familie, sondern auch das unserer Nachbarn.‹«

»Ein freigiebiger Bauer.«

»Unser Bruder war auf der Rückfahrt sehr nachdenklich. Er sprach davon, dass einige Dinge, die im Königshaus abliefen, an den Bedürfnissen der Bevölkerung vorbeigingen. 

›Vergiss nie‹, sagte er zu Uns, ›was du heute gesehen hast! Du wirst eines Tages König sein. Ohne diesen armen Bauern wäre ich heute tot. Wir können uns glücklich schätzen, so anständige Bürger in unserem Reich zu haben. Ein gutes Königreich besteht aus guten Bürgern.‹«

»Mit dieser Ansicht, König, lag Euer Bruder nicht ganz falsch.« 

»Richtig, Ritter. Aber wie hätte Unser Bruder ahnen sollen, dass unser Vater auf seine alten Tage noch sentimental werden sollte und sein Vermächtnis, das Königreich, unter seinen Söhnen aufteilen würde. So erhielt auch Unser Bruder Wandûn ein Königsamt. Und dieses Amt füllt er nun so aus, wie er es sich als Heranwachsender vornahm.«

»Und dazu gehört es, die höfischen Gepflogenheiten zu missachten.«

»Wisst Ihr, Ritter. Wenn Unser Bruder sich darin gefällt, sich selbst mit ›ich‹ statt mit ›Wir‹ zu adressieren und auf die Majestäts-Anrede verzichten möchte: Wer sind Wir, es ihm verwehren zu wollen. Unser Bruder ist König von Ragon-Wôk, dem Land links des Gebirges. Es gebührt ihm, so zu handeln, wie es ihm beliebt.«

»Wenn ich noch ein letztes Argument vorbringen darf …?«

»Ihr dürft …«

»Mit Verlaub, Majestät. Ein König muss auch schwierige Entscheidungen treffen können. Habt Ihr Euch einmal überlegt, was geschieht, wenn Euer Bruder jemanden in den Tod schicken muss? Wird er dem gewachsen sein?

Ich will Euch meine Meinung sagen, Majestät. Euer Bruder ist ein Schönwetter-König. Das Volk mag ihn – liebt ihn vielleicht sogar – und solange es allen gut geht, wird es auch so bleiben. Was aber, wenn das Land angegriffen wird? Wird er stark genug sein? Und wenn Ragon-Wôk fällt, meint Ihr, Ihr werdet Euer Reich rechts des Gebirges halten können? 

Ich rate Euch, mein König: Holt Euch das Land links des Ragon zurück. Regiert das ganze Reich, wie es auch Eure Väter taten. Macht aus Eurem Bruder einen Großherzog und gebt ihm die Würde einer Majestät, obwohl er darauf ja offensichtlich keinen Wert legt. Aber haltet Ihr die Zügel über Aragnar in der Hand.«

»Ein Großherzog hat ein großes Amt inne, Ritter. Er ist einem König fast ebenbürtig, wenngleich er doch kein König ist. Lasst Uns Euren Vorschlag für einen Moment erwägen, Ritter. Nehmen wir an, Ihr wärt König.«

»Eine vermessene Annahme.«

»Vermessen wäre es, wenn Ihr es selbst tätet, Ritter. Da Wir, der König, es tun, ist es sanktioniert. Also, Majestät Pjoktor, König von Ragon-Wôk. Wir, König Somman, bieten Euch an, Großherzog zu werden. Nehmt Ihr an? Wie werdet Ihr Euch danach fühlen? Und vor allem: Wer aus Eurem Hofstaat wird Euch nun noch ernstnehmen?«

»Gut, König. Dann lasst ihn König bleiben und erhebt Euch selbst zum Kaiser. Aber ergreift Ihr das Zepter Aragnars zum Wohle des Reiches und der Menschen.«

»Euren Visionen nach wäre ich dann also …«

»Ihr wärt Somman, Sohn des Argor, König von Ragon-Şalk und Kaiser über das Reich des Drachens!«

»Klingt nicht übel, wenn Ihr das so sagt. Wenn auch ein wenig größenwahnsinnig.«

»Größenwahn, mein König, gehört zum Geschäft eines Geheimrats. Meine Aufgabe ist es, größer zu denken, als Ihr es tut, damit Ihr über das hinauswachsen könnt, was Ihr seid. Zum Wohle des Reichs.«

»Gut gesprochen, Ritter! Ihr habt doch schon etwas ausgeheckt. Also – nennt mir Eure Pläne …«

Neun Monate zuvor, links des Ragon

König Wandûn saß mit seinem Berater, Graf Latian, zusammen. Der fuhr sich über die Stirn. »Was genau will Euer Bruder? Sagt es mir. Was genau will er? König. Ein Vierteljahr ist es nun her, dass Euer Bruder den Ragon für sich beansprucht hat. Und nun kommt die nächste Forderung. Wir müssen dem Einhalt gebieten.«

»Er schreibt, dass er Anspruch auf das Küstenmeer erhebt. Soll er es doch bekommen!«

»Merkt ihr nicht, wie Euer Bruder Euch übervorteilt?«

»Übervorteilt? Wisst ihr, Graf: Es ist mein Bruder! Und er fordert Dinge, die meiner Ansicht nach nicht die Lebensader von Ragon-Wôk sind. Wenn ich sein Schreiben richtig verstehe, beansprucht er das Küstenmeer um ganz Aragnar, ohne die Fischereirechte infrage zu stellen. Und das ist das Wichtige.«

»Er will Eure Flotte, König. Er will Eure Flotte!«

»Das klingt dramatisch, wenn ihr es so sagt, mein Graf. Aber überlegt einmal: Die sogenannte Flotte besteht aus ganzen drei Kriegsschiffen, die noch dazu in einem desolaten Zustand sind. Was für eine Art Flotte ist das? Und gegen wen wollt ihr mit drei schäbigen Kriegsschiffen bestehen?

Abgesehen davon hat mein Bruder recht: Wenn jemand unsere Insel bekriegen wollte, richtete sich ein solcher Angriff gegen ganz Aragnar. Früher gab es nur einen König. Heute, bei zwei Reichen, würde ein Aggressor zuerst gegen den schwächeren Teil zu Felde ziehen: gegen uns. Es leuchtet ein, wenn mein Bruder die Macht der Flotte unter ein Kommando stellen und die Seegrenzen kontrollieren will.«

»Ich fühle mich nicht wohl damit.«

»Schon jetzt, Graf Latian, wären wir auf meinen Bruder angewiesen, wenn uns jemand in kriegerische Auseinandersetzungen verwickeln würde. Und schon jetzt wäre mein Bruder in der Lage, Ragon-Wôk zu belagern und einzunehmen.«

»Aber …«

»Sicher, Graf. Ich könnte eine Armee aufbauen und von den Bauern fordern, dass sie mir ihre wehrfähigen Söhne schicken. Ich könnte Steuern erhöhen und das Letzte aus meinen Untertanen herauspressen, um eine Armada an Kriegsschiffen aufzubauen, nur um ein Gleichgewicht der Kräfte auf Aragnar herzustellen.« 

»König! Ich verstehe Eure Argumente. Aber ich fühle mich nicht wohl damit und halte es für meine Pflicht, Euch das mitzuteilen.«

»Ich verstehe das, denn es mutet tatsächlich seltsam an, Graf. Aber ich bin mit diesem Bruder aufgewachsen. Und ich vertraue ihm.«

»Sagt mir, König. Wenn Ihr ihm Eure Kriegsschiffe gebt und dazu das Küstenmeer um Ragon-Wôk. Was dann?«

»Mein Bruder schreibt, dass er den Schutz unserer beider Seegrenzen gewährleisten wird. Das heißt, er wird auch Ragon-Wôk – den Westteil der Insel – schützen.«

»Aber König …«

»Mein Graf! Überlegt einmal, wie Aragnar aufgebaut ist. Die Insel besteht aus zwei Hälften, getrennt durch den Ragon, den Großen Drachen. Unser Westteil betreibt Ackerbau und Viehzucht. Daneben haben wir weiße Strände, an denen einige Fischer mit Reusen fischen. Im Ostteil liegen die Wälder und die Erze. Dort werden Waffen geschmiedet, Bodenschätze gehoben, Holz wird geschlagen. Der Westteil – unser Teil – aber, versorgt das Land. Wir treiben regen Handel mit dem Osten. 

Das Beste, was Völker tun können, um miteinander in Frieden zu leben ist: Handel zu treiben. Völker, die durch Handelsbeziehungen verflochten sind, führen keine Kriege gegeneinander. Und Handel treiben wir rege mit dem Osten. Mein Bruder kann nicht leben ohne den Westteil. Oststädte wie Aachon, Lokaja und Dowi erblühen.

Wenn Somman die Seerechte beansprucht, weiß er, dass er sein in den Wäldern liegendes Land alleine kaum ernähren kann. Er braucht Ragon-Wôk. Seine entstehenden Metropolen benötigen unsere Kartoffeln, unser Gemüse und unser Obst. Wir haben die Olivenhaine, bei uns wachsen die Orangen. Ragon-Şalk hat das alles nicht. – Wir werden ihm die Seerechte lassen.«

»Aber …«

»Das wäre alles, Graf!«

Ragon-Şalk – rechts des Ragon

König Somman verlas ein Antwortschreiben seines Bruders Wandûn. 


Werter Bruder,

ich habe entschieden, Dir die Seerechte über das Küstenmeer um Aragnar – auch um Ragon-Wôk –, zu lassen.

Gezeichnet, Dein Dir treu verbundener Bruder Wandûn, König von Ragon-Wôk.


»Ihr seht, König, der Plan geht auf. Euer Bruder sucht die Harmonie mit Euch. Er wird auch zu weiteren Zugeständnissen bereit sein.«

»Ihr habt bereits viel erreicht, werter Pjoktor. Euer Geschick beeindruckt Uns.«

»Ich bin mit meinen Vorschlägen noch nicht am Ende, mein König!«

»Ihr wollt noch mehr fordern, Ritter?«

»Selbstverständlich, mein König. Euer Bruder hat Eure Ansprüche erfüllt, ohne auch nur in eine Diskussion mit Euch einzutreten. Testen wir doch einmal aus, wie weit wir gehen können, ohne dass er einschreitet …«

Sechs Monate zuvor

Graf Latian bat um Einlass zur Lagunenstadt und ward durchgelassen.

»Was ist los?«, fragte König Wandûn. »Was gibt es so Dringendes, dass ich sofort gehört werden muss?« 

»König, es ist etwas Schlimmes passiert. Euer Bruder …«

»Was ist mit meinem Bruder? Geht es ihm gut?«

»Die Frage ist nicht, ob es ihm gut geht. Die Frage ist, ob es uns gut geht.«

»Sprecht!«

»Ich komme geradewegs vom Ragon. Euer Bruder hat die Mutter des Rukon umgeleitet.«

»Den Fluss Rukon umgeleitet? Was hat er getan?«

»Euer Bruder, König Somman, hat die Geburtswässer des Rukon verschlossen.«

»Ich verstehe nicht.«

»König! Ich will es Euch erklären. Der Kristallsee hoch oben im Gebirge wird von mehreren Quellen gespeist. Aus diesem Bergsee heraus entspringt der Rukon, der Doppelstrom. Ein Ausläufer führt in den Westen und einer in den Osten. Auf unserer westlichen Seite spaltet sich der Rukon auf und gebiert den Morkon und der Silfluss. Diese drei Flüsse sind die Lebensadern unseres Landes. Auf der Seite Eures Bruders Somman fließt nur der Ausläufer des Rukon.«

»Ich weiß über den Verlauf des Rukon wohl Bescheid. Aber – was ist nun geschehen?«

»Euer Bruder, König Somman, hat heimlich Sperrwerke anlegen lassen. Einen Großteil der Kristallsee-Wässer leitet er nun nach Osten um. 

Die einst mächtigen Drachenfälle sind nur noch ein Schein ihrer selbst; das Wasser des Silflusses ist nahezu versiegt; der Morkon steht so niedrig, dass kaum noch Bootsverkehr möglich ist, geschweige denn die Felder im Norden genügend Wasser haben. Auch das Wasser des Hauptarms ist merklich zurückgegangen. 

Das ist eine Katastrophe, König! Ohne diese drei Flüsse wird Euer Land zur Wüste werden. Zumindest wird es das Ende der Landwirtschaft bedeuten, wie sie über Generationen in Ragon-Wôk betrieben wurde.«

»Übertreibt Ihr nicht, Graf?«

»Unser Land ist fruchtbar, aber es verfügt über wenig hohen Bewuchs, der die Feuchtigkeit im Boden hält. Wenn der Boden ausdörrt, die fruchtbaren Schichten verweht werden, wird Euer Land zuerst zur Steppe und danach zur Wüste werden. König, Ihr müsst einschreiten! Ihr müsst zu den Waffen rufen und Euren Bruder herausfordern!«

»Meinen Bruder herausfordern? Bevor ich so weit gehe, werde ich ihm einen Besuch abstatten. Macht meine Kutsche bereit.«

»König! Ihr könnt doch in einer solchen Situation Euren Bruder nicht zu Verhandlungen besuchen!«

»Aber natürlich kann ich das!«

»Und wenn Ihr nicht zurückkommt?«

»Es ist mein Bruder, Graf! Es ist mein Bruder, der für mich Äpfel vom Baum geholt hat, der für mich Nüsse geknackt hat, wenn ich es nicht hinbekam. Er war es, der mir ein Baumhaus gebaut hat. Und er wird mein Bruder bleiben. Ich weiß nicht, wer ihn berät. Ich weiß nicht, was mit ihm los ist. Aber ich werde es herausfinden …«

»Aber …«

»Das wäre alles, Graf.«

Einige Tage zuvor

»Was gibt es, Bruder? Was ist so wichtig, dass du extra den weiten Weg nach Ragon-Şalk auf dich genommen hast?«

»Das müsstest du doch am besten wissen … Bruder!

Zuerst hast du den Ragon für dich beansprucht. Ich habe gesagt: ›Gut. Geben wir ihm den Ragon, um des Friedens willen. Auch die Westseite des Gebirges, obwohl sich unser Vater im Grabe umdrehen würde, wenn er davon erführe.‹

Danach hast du das Küstenmeer gefordert. Ich hatte daraufhin gesagt: ›Um des Drachens Namen, Ragon-Şalk soll die Kontrolle über das Küstenmeer bekommen, wenn wir dadurch Frieden haben und unsere Leute weiter fischen dürfen.‹

Bruder, ich will mit dir keinen Krieg. Aber nun leitest du den Rukon um. Du weißt: Die Wasser dieses Flusses speisen das komplette Westreich. Es gibt nicht genug Süßwasser in Ragon-Wôk, wenn nicht über den Rukon. 

Die Orangenplantagen, die Olivenhaine, Tomaten, Paprika, Kartoffeln – all das liefern wir auch in dein Land, Bruder. Meine Räte warnen, mein Reich links des Ragon würde versteppen und zur Wüste werden, wenn die Wasser des Rukon nicht wie bisher fließen. 

Ich muss meine Bevölkerung ernähren. Bruder! Was soll ich also tun? Soll ich in den Krieg ziehen? … Das werde ich meinen Untertanen nicht antun. 

Ich bin hier. Wenn ich etwas falsch gemacht habe, Bruder, dann nimm mich gefangen. Wirf mich in einen Kerker. Aber lass meine Leute nicht für deine Eitelkeit bluten – oder für meine Fehler.«

Wenig später

»Na, das lief doch gut!«

»Was – lief gut? Graf Latian?«

»König Wandûn! Euer Bruder hat Euch gegenüber zugegeben, dass er es übertrieben hat. Gut, er hat nicht diese Worte verwendet. Aber er hat zugesagt, die Sperre wegzunehmen, das Wasser wieder fließen zu lassen. Ich hätte das nicht gedacht.«

»Und Ihr glaubt ihm?«

»Habt Ihr Zweifel an den Worten Eures Bruders? Ihr habt ihn doch immer so hochgehalten.«

»Gerade deswegen habe ich Zweifel. Mein großer Bruder Somman und ich: Es gab eine Zeit, da standen wir uns sehr nah. Und heute – auch wenn wir uns nicht mehr so häufig sehen mögen, Amtsgeschäfte uns behindern, die den Weg zwischen unseren Reichen zu lang werden lassen, weiß doch jeder noch sehr genau, was der andere denkt.«

»Und Ihr wisst, was Euer Bruder denkt?«

»Ich bin auf meinen Bruder zugegangen und habe mit sehr deutlichen Worten beschrieben, dass er zu weit gegangen ist. Er hat mir aber nicht zugestimmt.«

»Er hat euch doch zugestimmt, König!«

»Er hat mir mit Worten zugestimmt. Seine Augen verrieten aber das Gegenteil.«

»Seine Augen?«

»Graf Latian. Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll, aber was immer in meinem Bruder vorgehen mag: Es macht mir Angst.«

»Und was werdet Ihr nun tun?«

»Sagt dem Kutscher, er soll das Dünenfort ansteuern?«

»Das Dünenfort? Wollt Ihr Soldaten schicken?«

»Soldaten, Graf Latian, setzen voraus, dass es irgendwo eine Armee gibt. Im Dünenfort sitzt lediglich ein Regiment – das einzige in Ragon-Wôk. Es war nie dazu bestimmt, allein zu kämpfen, sondern es ist Teil der sieben Regimenter Aragnars. Wo glaubt Ihr, ist das restliche halbe Dutzend stationiert, Graf Latian? – Mein Bruder hat die Armee, nicht ich.«

Briefwechsel in Aragnar

Hier meldet sich wieder Malangar, Bibliothekar und Chronist von Mooyan, des Archipels. Die bisherigen Schilderungen aus Aragnar stammten von Zeitzeugen. Während meiner Recherchen stieß ich auf weitere Dokumente. Zum Beispiel den Schriftverkehr zweier Liebender, der die Spannungen überdauert hat.


Werte Lasita,

diese Zeilen schreibt Dein Dich liebender Riban. Als ich hörte, dass Du Aragnar verlassen hast, habe ich keinen Moment gezögert und sofort einen Brief geschrieben. Das nächste Schiff nach Repin wird ihn hoffentlich zu Dir tragen.

Wir sitzen heute mit unserer Kompanie am Ragon fest. Alle sind sehr aufgeregt, aber voller Zuversicht, dass wir den schwelenden Streit unserer Könige endlich beilegen können.

Die Wasser des Rukon fließen wieder, wenn auch nicht mehr so stark wie in der Vergangenheit. Die Leute von Ragon-Şalk schieben technische Gründe vor, halten den Kristallsee aber wegen Sicherheitsbedenken besetzt. Wir sind misstrauisch.

Der König persönlich hat Befehl gegeben, das Gebirge zu durchstreifen, die Augen offen zu halten, aber dabei »unsichtbar zu bleiben«. Als Soldaten im Dienste des Königs führen wir seine Befehle natürlich aus. Aber wir fragen uns manchmal, ob er glaubt, dass wir der Hexerei kundig sind.

Ich beende nun diesen Brief, damit du ihn schnell erhältst.

In Liebe, Dein Riban


Lasita strahlte den ganzen Tag lang, als sie Ribans Brief erhielt. Und sie las ihn viele Male hintereinander. Auch sie hatte Neuigkeiten zu berichten und schrieb, so schnell sie konnte, eine Antwort. Die sandte sie mit dem nächsten Schiff in einer Kiste mit lebendigem Inhalt. 


Geliebter Riban,

Dein Brief hat mich erreicht und mein Herz sehr glücklich gemacht. Die Tage hier in Repin sind kalt und ohne deine starken Arme ist es hier sehr einsam. Einerseits verstehe ich, dass mein Vater mich hierher geschickt hat – in Sicherheit. Wenn auch vorgeblich mein Asthma behandelt werden soll. Und Du, werter Riban, fehlst mir sehr.

Meine Tage hier in Repin sind nicht mit vielen Aktivitäten ausgefüllt. Die meiste Zeit sitze ich am Ufer, schaue über das Meer und habe Tagträume, dass wir bald wieder vereint sein können. Nichts würde ich lieber tun, als mit Dir durch die Wälder am Fuß des Ragon zu streifen. Oder von der Promenade der Lagunenstadt aus Steine in die See zu werfen.

Hier in Repin bin ich mit dem Konglomerat der Wissenschaftler in Kontakt gekommen. Die Menschen Repins sind sehr freundlich aber auch ebenso geheimnisvoll. Sie verbeugen sich vor jedem und reden sich mit »ehrenwert« an. Mich ruft man »ehrenwerte Lasita von Drachenblick«. Ich muss mich disziplinieren, weil ich manchmal darüber lachen möchte.

Die Leute hier haben helle, dunkle, kurze oder lange Haare, aber alle schimmern rötlich. Das finde ich sehr süß und es kennzeichnet mich gleichzeitig als Ausländerin. Das öffnet mir gelegentlich neue Türen. So machte mir jemand für fünf meiner rein-blonden Strähnen ein Angebot, das ich nicht ablehnen konnte: Sie nennen es eine Columba. In der Sprache der alten Wissenschaften heißt das wohl »Taube«.

Wahrscheinlich wirst du überrascht gewesen sein, dass man Dir mit meinem Brief ein Paket übergab, in dem sich eine solche Columba und ein silberner Stein – ein Silex destinati – befanden. Die Leute hier behaupten, dass eine Columba zwischen zweien dieser silbernen Steine hin- und herfliegen würde. Ich hielt es zunächst für eine Albernheit, aber man bestand darauf, dass es funktionieren würde. Es sei eine der neusten Errungenschaften, die eine Kooperation der Konglomerate Wissenschaft und Magie ersonnen hätte.

Überhaupt ist das Leben hier so ganz anders als zu Hause. Die Menschen geben sich mit den Begebenheiten nicht zufrieden – ersinnen ständig Verbesserungen. Vor allem die Wissenschaften sind stark vertreten in Repin.

Es gibt hier selbstfahrende Kutschen, mit denen Du Dich durch das ganze Land chauffieren lassen kannst. Ich wurde damit nach Sarfin gebracht. Ein Mann aus dem Wissenschafts-Konglomerat versuchte, mir während der Fahrt die Technik zu erklären: Ein Zusammenspiel aus Feuer und Wasser würde die Kutsche antreiben. Feuer und Wasser – wer kommt denn auf so etwas? Sie nennen es Lokomotive. Es ist unglaublich hier. Überall gibt es überwältigende Dinge zu sehen. Wir müssen diesen Ort eines Tages zusammen besuchen.

Aber genug der Worte. Ich möchte, dass du meine Nachricht schnell erhältst. Wenn du mir antwortest, binde deinen Brief an den linken Fuß der Taube, halte kurz den silbernen Stein vor ihren Kopf und lass sie fliegen. Die Taube wird mich finden, wo immer ich bin.

Wie ich dir bereits schrieb, werter Riban. Du fehlst mir sehr und ich weine manchmal, weil ich Angst um Dich habe. Komm zu mir zurück.

In Liebe

Lasita


Nicht nur Riban, auch seine vorgesetzten Offiziere wunderten sich über die sonderbare Zustellung. Und hätte die kleine Kiste nicht die Prinzessin als Absender gehabt – vielleicht hätte sie ihn niemals erreicht. Am gleichen Abend noch schrieb er eine Antwort.


Werte Lasita,

diesen Brief schreibt Dir Dein treuer Riban. 

Tatsächlich war ich sehr überrascht wegen des silbernen Steins und vor allem wegen des Taubenkäfigs. Meine Kameraden haben sehr sonderbar geschaut. Aber da Du der Absender warst, stellte man mir Dein Paket zu. Ob man das bei jedem Soldaten gemacht hätte … ich bezweifle es.

Dass Dich mein Antwortbrief erreichen wird, kann ich fast nicht glauben, aber da Du so überzeugt bist, will ich sofort etwas aufsetzen. Bitte antworte auch Du mir schnell. Hoffen wir, dass die Leute von Repin keine Possen mit Dir getrieben haben.

Zu unserer Situation hier: Wir waren für einige Tage ins Dünenfort zurückgekehrt. Dann aber wurde uns befohlen, auf dem Ragon Stellung zu beziehen. Das Gebiet gehört jetzt zum Osten, aber wir haben immer noch ein besseres Wissen über die Höhlengänge, die ihre Ausgänge im Westen haben.

Erinnerst Du Dich an die kleine Grotte, in der wir uns in den Armen lagen. Weiter hinten windet sich ein Kanal nach oben, wo der Kieselbach entspringt.

Es gibt hier wenig Neues. Wir sitzen zusammen, spielen Karten, halten Ausschau und warten darauf, dass im Osten etwas geschieht. Aber bis jetzt ist alles ruhig.

Ich hoffe, werte Lasita, dass dieser Konflikt bald beendet ist. Alle geben sich Mühe, die Situation als nicht kritisch zu beschreiben, aber wir spüren, dass unsere Vorgesetzten angespannt sind. Wir sind überzeugt, es besteht Gefahr, dass ein Krieg ausbricht. In jedem Fall erleben wir eine große Verunsicherung.

Sicher war es eine gute Idee, dass Dein Vater Dich nach Repin geschickt hat. Ich hoffe, dass es Dir wohl ergeht und bin froh, dass Du Dich außerhalb der Reichweite befindest. Sonderbare Dinge geschehen. Dazu werde ich aber das nächste Mal schreiben.

Ein Bote bringt uns gerade weitere Befehle. Ich muss diesen Brief beenden, um ihn ihm gleich abzuschicken.

Alles Liebe für Dich

Dein Riban

Drei Monate zuvor

Die Columba brachte Ribans Brief zu deren großer Freude tatsächlich zu seiner Lasita. Die schrieb einen Brief zurück, der leider nicht überliefert ist. Denn er fiel ins Wasser, kurz nachdem Riban ihn gelesen hatte. Darum wenden wir uns den beiden später wieder zu und schwenken hinüber zur Lagunenstadt, die auch König Wandûns Schloss Möwennest beherbergt. Denn dort ankerte eines Morgens ein schwarzes Diplomatenschiff, dessen Botschafter eine Audienz beim König wünschte.

»Mein Name ist Sanjok. Ich komme als Abgesandter aus dem Osten.«

»Aus dem Osten? Ihr kommt als Abgesandter König Sommans, meines Bruders?«

»Nein.«

»Ihr kommt aus Zahal?«

»Nein.«

»Dann verstehe ich nicht. Tandir liegt am östlichen Rand der bekannten Welt. Aber es wäre mir neu, dass aus Tandirs wilden Wäldern Diplomaten entsandt würden. Von woher kommt Ihr also?«

»Viele Wochenreisen östlich der Euch bekannten Welt liegt das Königreich von Eron. Unser König sucht Handelspartner. Er hat von Eurer Bedrängnis erfahren und möchte Euch helfen, hier in Aragnar den Frieden zu wahren.«

»Den Frieden? Welche Interessen hat ein König von weit her, uns den Frieden zu wahren?«

»In unserem Land ist es ein Zeichen der Verbundenheit, sich gegenseitig eine Gefälligkeit zu erweisen. Und wie wäre es besser möglich, Euch unsere Ergebenheit zu zeigen, als wenn der Beginn unserer Zusammenarbeit auf einer Hilfsaktion ruht. So werdet Ihr niemals vergessen, dass das Königreich Eron Euch zugeneigt ist. Dass wir Freunde sind.«

»Ihr wollt mich gegen meinen Bruder unterstützen, ohne dass Ihr mein Land kennt?«

»König, ich hoffe, dass ich Euch nicht zu nahe trete, wenn ich sage: Wir kennen Euer Land. Bevor ich mich dem Vergnügen hingab, Euch aufzusuchen, hatten wir mit verschiedenen Inseln der Euch bekannten Welt Kontakt. 

König Eron und seine Berater haben entschieden, dass Aragnar unser erster Handelspartner sein soll. Zum einen, weil Ihr im Osten Eurer Welt liegt. Zum anderen, weil uns Eure Kultur zusagt, weil Eure Lebensart der unseren ähnlich ist und wir Eure Friedfertigkeit schätzen. Wir sind überzeugt, dass Ihr ein rechtschaffenes Volk seid.«

»Wenn Ihr aus dem Osten kommt, wisst Ihr bestimmt, dass der Ostteil Aragnars von meinem Bruder regiert wird. Hier ist der Westteil der Insel.«

»Mein König Eron erachtet Euren Bruder für weniger vertrauenswürdig als Euch. Ihr müsst wissen: Meine Heimat liegt weit entfernt. Wir möchten Handel treiben und freundschaftliche Bande schließen. Aber ein Schiff, welches von so weit her kommt, ist leichte Beute. Wir suchen einen sicheren Hafen.«

»Sagt mir, Ritter Sanjok. Wie genau möchtet Ihr uns unterstützen?«

»Wir sind in der Lage, Euch ein Angebot zu unterbreiten, um Euch und Euer Reich zu schützen.«

»Schützen? Was wollt Ihr schützen?«

»Euer Bruder hat das Vertrauensverhältnis zu Euch aufgekündigt. Er verhält sich unberechenbar, säht Misstrauen und gefährdet die Stabilität Aragnars. Ist es nicht so?«

»Und Ihr wollt mir helfen, diese Stabilität wiederherzustellen?«

»Sagen wir: Unser König Eron würde es bevorzugen, mit nur einem Herrscher von Aragnar zu verhandeln. Und wenn es nach ihm ginge, wäre es der vertrauenswürdigere.«

 »Wir können meinen Bruder nicht besiegen. Er hat fünfmal so viele Schiffe und ebensoviele Regimenter mehr als wir. Und seine Burg Drachenblick: Es gibt keine Chance, in die Burg zu einzudringen. Die Burg liegt an der Nordflanke des Ragon. Eben dort, wo der Drache seine Augen hätte. Die Burg ist auf einer Anhöhe – mehr als hundert Faden hoch und sitzt auf Felsen. Wenn man nicht über die normalen Wege kommt, hat man keine Chance, in die Burg zu gelangen. Wie genau sollte jemand meinen Bruder Somman stellen?«

»Mit Technik, mein König. Mit Technik.«

»Technik?«

»Technik wirkt auf den Unwissenden wie Magie, sagen Eure Nachbarn in Repin. Auch wir bringen neue Technologien.«

»Was für eine Technologie soll das sein, mit der man Burg Drachenblick schleifen kann?«

»Vertraut mir, König. Stellt Ihr die Männer zur Verfügung. Eine Kompanie sollte genügen.«

»Eine Kompanie? Das sind fünfzig Mann. Damit kann man doch keine Burg einnehmen!«


Meine werte Lasita!

Ich schreibe Dir heute aus höchster Erregung. Man sagt, der König habe den Befehl gegeben, einen Angriff vorzubereiten. Leute wurden ausgesondert: Kämpfer, Kletterer und Matrosen. Niemand erzählt uns Genaueres, aber für keinen macht es Sinn. Und wenn ich die Tuschelei zwischen unserem Zugführer und dem Hauptmann richtig mitbekommen habe, auch für unsere Vorgesetzten nicht.

Ich wurde zu einer Vorhut eingeteilt. Wir haben uns auf der Ostseite des Ragon verschanzt. Dort sitzen wir auf einer Anhöhe, auf der sowohl der West- als auch der Ostteil der Insel unter uns liegen. Alles ist friedlich.

Unsere Vorgesetzten tuscheln über eine Geheimwaffe. Um ehrlich zu sein, liebe Lasita. Wir alle denken, dass sie selbst nicht daran glauben. Vielleicht will man uns nur beruhigen. Meine Aufgabe wird es sein, die Lage zu beobachten und Signal zu geben. So sitzen wir nun hier und warten darauf, dass etwas geschieht.

Graf Ottwang, dessen Gebiet jetzt König Somman zugefallen ist, hatte für seine Minen zahlreiche Stollen durch den Berg getrieben. Er ist auf unserer Seite und führte uns über wenig bekannte Gänge zu unserem Aussichtspunkt.

Ich werde nun die Taube mit diesem Brief losschicken. Wenn weitere Dinge geschehen, lasse ich es dich wissen.

In Liebe – Dein Riban

Zwei Monate zuvor

»König! Ich hatte versprochen, Euch einen überzeugenden Plan vorzulegen.«

»Das hattet Ihr zugesagt. Und auch ich habe Wort gehalten und eine Kompanie für Euch bereitgestellt, bestehend aus Kletterern, Kämpfern und Seeleuten.«

»Auch diesmal, König, werde ich nicht den vollständigen Plan offenbaren. Wir werden lediglich die Stellungen besprechen. Und es wird dabei bleiben: Euch gebührt die volle Kontrolle über einen Kampf. Ohne Euer Startsignal werden Eure Truppen nicht beginnen.«

»Gut, Sanjok. Lasst hören.«

»Beginnen wir mit den Kletterern. Wir benötigen für beide Trupps ein Versteck an der Nordost-Seite des Ragon, nicht weiter als eine halbe Stunde Fußmarsch vom Felsensockel der Burg Drachenblick entfernt.«

»Das ist einfach, Ritter. Um die Burg herum gibt es eine Vielzahl von Unterspülungen und Felsenhöhlen, die leer und unbewacht sind.«

»Ziel der Kletterer wird die Ostwand der Burg sein.«

»Aber welchen Sinn soll es haben, die Ostwand zu besteigen? Vom Wasserspiegel aus sind es über hundert Faden Höhenunterschied, bis man den Sockelfelsen von Drachenblick erreicht. Bei Dunkelheit werden unsere Kletterer keine Probleme haben, diesen schroffen Anstieg zu erklimmen, ohne gesehen zu werden. Ich würde sogar so weit gehen, dass sie direkt an der Ostwand lagern können. Die Wachtplattform steht über. Niemand wird sie sehen, wenn sie sich direkt an der Mauer befinden.«

»Das ist sehr gut, König. Eure Leute sollen dort auf Posten gehen. Sie werden auf Euer Kommando hin über die Ostwand in die Königsgemächer eindringen.«

»Aber Ritter Sanjok! Wie sollen meine Leute in die Königsgemächer eindringen? Sie sind direkt in den Fels geschlagen, der fast senkrecht abfällt. Die Wände sind mehrere Fuß dick, die Fenster vergittert.«

»Des Königs Komfort wird uns gute Dienste leisten.«

»Aber Ritter. Die Königsgemächer sind aus drei Gründen oben in der Ostwand: Zum einen wegen der massiven Felsen, die jedem Beschuss von der See aus standhalten. Zum anderen wegen des unglaublichen Blicks auf Wasser und Land. Und schließlich, weil sich alle Militärberater meiner Väter darüber einig waren, dass die Ostwand nur von sehr geschickten Kletterern bezwungen werden könnte. Die Fenster sind darum trichterförmig in den Fels getrieben. Dieser wurde so beschlagen, dass dort keine Hand Griff finden wird.«

»Ich muss Euch widersprechen, König. Die Ostwand ist fast sicher. Aber eins hat man vergessen!«

»Aber das ist doch Unsinn!«

»Lasst uns einen Handel schließen, König. Ihr bereitet Euren Teil des Plans vor. Ich meinen.«

»Gut, Sanjok. Lasst uns das vereinbaren. Aber was ist mit den restlichen Soldaten. Schicke ich die zur Zugbrücke, oder was? Dort würden sie doch sofort entdeckt werden.«

»König! Eure Leute werden an der Zugbrücke nicht benötigt. Sie sollen Posten beziehen an den nördlichen Klippen der Burg. Wie Ihr schon sagtet, gibt es dort viele Unterspülungen und Höhlen, in denen sie sich verstecken können.«

»Ich weiß, Ritter. Ich habe dort als Kind häufig gespielt.«

»Dann kennt Ihr sicher den Lurchenbau …«

»Den Lurchenbau? Ihr wisst davon?«

»Glaubt Ihr, König, dass ich eine Strategie erarbeite, ohne mich über die Lage kundig zu machen?«

»Der Lurchenbau ist geheim, Ritter Sanjok. Allein die Nennung des Namens hätte unter meinem Vater ausgereicht, Euch aus Gründen der Sicherheit in einem dunklen Kerker verschwinden zu lassen. 

Aber was wollt Ihr dort unten? Aus den Königsgemächern kann man sich über Stangenkonstruktionen und Plattformen schnell bis zum Meeresspiegel hinunter abseilen. Dazu sind knapp siebzig Faden Höhenunterschied zu überwinden. Alle fünf bis zehn Faden muss eine Falltür aus beindickem Holzplanken geöffnet werden, deren Riegel sich nur von oben aufschieben lässt. Ihr werdet vom Lurchenbau aus niemals die Burg erreichen.«

»Es will auch vom Lurchenbau aus niemand die Burg erreichen! Postiert Eure Leute dort unten und lasst sie abwarten.«

»Aber wie soll ich meine Leute dort unten erreichen? Wie soll ich sie erreichen, wenn ich selbst in der Lagunenstadt mehr als fünfzig Meilen entfernt bin?«

»Eure Kämpfer im Lurchenbau werden dort einfach nur Posten beziehen. Sollte der König seinen Notausgang wählen, werden sie ihn in Empfang nehmen. Sonst haben sie keinerlei Aufgabe.«

»Und meine Kletterer an der Ostwand?«

»Eure Kletterer werdet Ihr von hier aus befehligen – aus der Lagunenstadt heraus. Ihr, König Wandûn, werdet die Zügel in der Hand halten. Wenn Ihr das Signal nicht gebt, wird kein Angriff stattfinden. Diesen Vertrauensbeweis bin ich Euch schuldig.« 

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